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Wir haben es satt!

Äußerungen von Joseph Wilhelm als untragbar deklariert

Der Zusammenschluss „Meine Landwirtschaft“, Veranstalter der jährlichen Demonstration „Wir haben es satt!“ in Berlin, kann sich eine Zusammenarbeit mit Rapunzel und Zwergenwiese nicht mehr vorstellen.

Auf der Web-Seite von „Meine Landwirtschaft“ gibt der Zusammenschluss von rund 50 Organisationen, darunter alle namhaften Anbauverbände und Umweltorganisationen, folgendes Statement ab:

„Um es gleich vorweg zu nehmen: Obwohl die Corona-bedingten Einschränkungen für uns alle unangenehm sind und für viele derzeit prekäre Lebensumstände bedeuten, halten wir es für selbstverständlich sich an die Empfehlungen von Epidemiolog*innen und anderen Expert*innen im Gesundheitsbereich zu halten. Wir teilen die Sicht all jener, die fordern, dass man jeder Krise ernsthaft begegnen sollte – nämlich faktenbasiert und mit Vor- und Fürsorge für die Schwächsten.

Die Aussagen des Rapunzel-Gründers Joseph Wilhelm in seinen 'Wochenendbotschaften' halten wir vor diesem Hintergrund für absolut nicht tragbar. Dasselbe gilt für andere ähnliche Aussagen und all die irrsinnigen Verschwörungstheorien, die momentan propagiert werden. In seinen wöchentlichen Rundschreiben fabuliert der Rapunzel-Geschäftsführer nicht nur von einem vermeintlichen Impfzwang, er behauptet auch, Viren leisteten einen wichtigen Beitrag zu Fortentwicklung der menschlichen Anatomie und Psyche. Das Tragen von Masken stelle für ihn die höchste Form der Demütigung dar. Zitat: ‚Masken=Maulkorb=Unterwerfung‘. Und aktuell fühlt sich der 66-Jährige an das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte erinnert.

Die letzten Monate haben gezeigt: Untätigkeit straft das Corona-Virus mit dem massenhaften Tod von Menschen. Opfer sind insbesondere die Schwachen und Armen und all jene, die für sie sorgen. Also in erster Linie Menschen, die nicht auf eine gute Krankenhausinfrastruktur, staatliche Fürsorge, angemessene Hygiene, ausreichend Platz und gesunde Ernährung zurückgreifen können. Vielen ist derzeit zudem der Zugang zu Nahrung auf Grund von Ernteausfällen, Lieferschwierigkeiten, Marktschließungen und willkürlichen Repressalien erschwert.

Wilhelms Infragestellung der wissenschaftlichen Erkenntnisse und gesellschaftlichen Realitäten zeugt im besten Fall von der Ignoranz eines sozial und ökonomisch Bessergestellten. Selbst seinen Rat, dass „eine vollwertige Ernährung mit ausreichend Frischkost und viel Bewegung an der frischen Luft die Immunabwehr ganz entscheidend stärkt“, empfinden wir mit Blick auf die sozialen Ungleichheiten und Auswirkungen der Pandemie als extrem beschämend. Sie wird auch in keinster Weise der selbsterklärten Verantwortung seines Unternehmens gerecht.

Selbst in Europa – ja, sogar in Deutschland – sind die Möglichkeiten, Hygiene- und Abstandsregeln einzuhalten und der Zugang zu gesundem Essen oftmals ein Privileg. Auch wenn die Wertschätzung für gutes Essen gesamtgesellschaftlich steigen muss, ist klar: Wer auf den Mindestlohn oder das Arbeitslosengeld angewiesen ist, kann sich den regelmäßigen Kauf von Bio-Lebensmitteln nur schwerlich leisten.

In der Vergangenheit hat Rapunzel, zu dessen Unternehmensgruppe auch Zwergenwiese gehört, die von uns initiierte Wir haben es satt!-Demonstration als Förderer unterstützt. Angesichts der aktuellen Positionierung durch den Gründer und Geschäftsführer können wir uns eine derartige Zusammenarbeit in Zukunft nicht vorstellen.“

Kommentar: An den Taten messen, nicht an Worten

Seit zehn Jahren verfolgt der Zusammenschluss „Meine Landwirtschaft“ eine bessere Agrarpolitik. Joseph Wilhelm ist bereits über 40 Jahre mit diesem Ziel unterwegs. In vielen Ländern der Erde hat er für die Umstellung von Betrieben auf Bio-Anbau gesorgt und durch die Hand-in-Hand-Projekte von Rapunzel eine faire Bezahlung ermöglicht. Mit der Aktion „Genfrei gehen“ wanderte er quer durch die Republik und klärte die Menschen am Wegesrand über die Gefahren der Gentechnik in der Landwirtschaft auf.

Auch den Zusammenschluss „Meine Landwirtschaft“ hat Joseph Wilhelm viele Jahre finanziell unterstützt. Jetzt ist er dort „untragbar“ geworden, weil er seine Lebensphilosophie zum Besten gegeben hat.

Moment: Was war noch mal das Ziel des Zusammenschlusses? Hatte das nicht mit Ökolandbau zu tun, für den der Rapunzel-Chef bereits viel geleistet hat? Nein, es geht den Akteuren des Zusammenschlusses um seine persönlichen Meinungsäußerungen, die sich nicht an der Wissenschaft orientieren und in Vokabular und Aussagen neben der Spur sind. Joseph Wilhelm will dem Corona-Virus mit offenem Visier begegnen, er findet sogar Positives an Viren.

Das einzig Positive ist, dass es ohne Corona-Virus keine Zäsur im umweltschädlichen Verhalten gegeben hätte. Verwaiste Flughäfen und leere Autobahnen wären undenkbar gewesen. Auch dass der Staat praktisch über Nacht riesige Geldsummen generieren kann, hat das Virus offengelegt. Selten hat man Politiker so schnell handeln sehen. Und dass nun wenigsten in einigen Bereichen zukunftsfähige Investitionen getätigt werden sollen, ist ebenfalls ein Verdienst des Virus. Ein Impfstoff hätte dazu geführt, dass wir so weitergemacht hätten wie bisher.

Doch auch ohne Impfstoff drängen jetzt die meisten wieder auf Rückkehr zum „normalen Leben“. Die Gefahr einer zweiten Infektionswelle wird ignoriert und die Länderchefs sehen sich zu vorzeitigen Öffnungen genötigt. Die wirtschaftlichen und sozialen Belange sind plötzlich wichtiger als die physische Gesundheit. Der Flieger nach Mallorca steht wieder im Mittelpunkt des Interesses und ganz oben auf der Agenda der geretteten Lufthansa.

Was längerfristig gesehen der richtige Umgang mit dem Virus ist, muss sich erst noch erweisen. Wie oft und in welchen Zeitabständen kann und will sich eine Gesellschaft Shut downs leisten? Vielleicht ist das offene Visier eines Tages der Königsweg?

Vor diesem Hintergrund sollte der Zusammenschluss „Meine Landwirtschaft“ seine Rausschmiss-Ankündigung überdenken und den verdienten Streiter für die ökologische Landwirtschaft an seinen Taten messen, nicht an seinen Worten. Oder ihn einfach mal kennenlernen. Horst Fiedler

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