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Kulinarik im 21. Jahrhundert

Warum die Agrarwende auch eine Ernährungswende braucht

Wie kann ein modernes, nachhaltiges Landwirtschafts- und Ernährungssystem gelingen? Dieser Frage stellten sich vergangenen Freitag Fachleute aus Wissenschaft, Politik und der Bio-Branche bei der AÖL-Veranstaltung „Kulinarik im 21. Jahrhundert“. Ohne eine radikale Umstellung des gewohnten Ernährungsstils wird die Agrarwende scheitern, so der Konsens unter den Teilnehmern.

Die Forderung nach einer Systemwende hin zu einer modernen und nachhaltigen Landwirtschaft ist groß. Doch wie kann die Wende über den Green Deal und die Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ gelingen? „Wir sitzen immer noch auf der falschen Agrarpolitik“, so der Europaparlamentarier Martin Häusling bei der Veranstaltung „Kulinarik im 21. Jahrhundert“, zu der die Assoziation ökologischer Lebensmittelhersteller (AÖL) und die Grünen im EU-Parlament eingeladen hatten. „Immer noch gehen 75 Prozent der Gelder an die Fläche und nicht an die Leistung der Bauern. Mit der „Farm to Fork“ Strategie will die Kommission dagegen angehen.“

Doch zu einer echten Ernährungswende gehören auch wahre Preise, geänderte Konsumstile und eine nachhaltigere Ernährungsumgebung, wie die Referierenden erläuterten. Amelie Michalke, Wissenschaftlerin an der Universität Greifswald, hat sich in einem Forschungsprojekt den wahren Preisen verschiedener Lebensmittel angenähert.

Obwohl sich das Projektteam für die Berechnungen auf nur vier Treiber konzentrierte, zeigte sich, dass besonders konventionell produzierte, tierische Produkte deutlich teurer wären. Zwar wären internalisierte Preise ein großer Hebel für Veränderungen im Ernährungssystem – allein sei das sogenannte True-Cost-Accounting aber nicht tragfähig, so Michalke. Der Preis muss immer auch mit anderen Maßnahmen verbunden werden.

„Solange externalisierte Leistungen am günstigsten sind, geht es weiter wie bisher“, schloss sich Alex Beck, geschäftsführender Vorstand der AÖL, Michalke an. Beck äußerte sich jedoch auch sicher, dass es zu einem wirklichen Wandel eine Versöhnung zwischen Konzeption und Produktion braucht. Zudem plädierte er dafür, die Ernährungsstile der Menschen zu modernisieren, zum Beispiel durch eine drastische Reduzierung des Fleischkonsums. Nur so könne die Ökologisierung der Urproduktion gelingen.

Zersplitterte Zuständigkeiten im Ernährungssystem

Dazu gehöre laut Beck auch die Diskussion über Suffizienz, also einem möglichst geringem Ressourcenverbrauch. „Vor dieser Debatte brauchen wir keine Angst haben. Ernährung ist ein menschliches Grundbedürfnis, daher werden die Akteure der Branche immer Relevanz haben. Wir sind ein Teil der Lösung.“ Ein enormes Problem sieht Beck darin, dass die Zuständigkeiten im Ernährungssystem zersplittert seien und es dadurch zu keinem gemeinsamen „Guss“ komme. Ein Lösungsansatz wäre die Gründung einer „Zukunftskommission Ernährung“ nach dem Vorbild der „Zukunftskommission Landwirtschaft“, so Beck.

Die Idee zu einer Zukunftskommission Ernährung begrüßte auch die Psychologin Britta Renner von der Universität Konstanz. Die Wissenschaftlerin forscht an der Frage, wie das Konsumverhalten der Menschen positiv beeinflusst werden kann. Um wirklich etwas an vorherrschenden Ernährungsgewohnheiten zu ändern, bräuchte es eine fairere Ernährungsumgebung und ein neues Verbraucherbild, so Renner. Denn die tägliche Auswahl ist durch selektive Wahrnehmung und die entsprechende Umgebung geprägt. Wenn etwa die Essensportion in der Kantine sehr groß sind, werde automatisch mehr gegessen.

Als Lösungsansatz und große Herausforderung zugleich sehen Renner und Beck das Verzahnen verschiedener Disziplinen wie Werbung, Produktpräsentation und Konsum. Dafür seien etwa leichtere Wahlmöglichkeiten für eine nachhaltige Ernährung geeignet – zum Beispiel durch Lebensmittelkennzeichnungen wie Klima-Labels oder den Nutri-Score.

Technik ist nicht die Lösung für die Zukunft

Laut Europa-Parlamentarierin, Köchin und Bio-Bäuerin Sarah Wiener muss der Nutri-Score als Lebensmittelkennzeichnung jedoch dringendst korrigiert und optimiert werden. Es würde bei Weitem nicht ausreichen, ein Produkt nur anhand seiner Inhaltsstoffe zu labeln, sondern es braucht die Ausrichtung auf gesunde und vorwiegend pflanzliche Produkte. Der 2020 eingeführte Nutri-Score wurde in seiner Form auch innerhalb Bio-Branche bereits vielfach kritisiert. Die heutige Gesellschaft sei entkoppelt von der Natur, die ihr notwendige Mittel zum Leben liefert. „Daher müssen wir die Sehnsucht nach Gutem, Gesundem wecken und wieder in Balance mit der Natur kommen. Industrie und noch mehr Technik sind nicht die Lösung für unsere Zukunft“, so Wiener.

Für diesen Ansatz lieferte Carola Strassner, Ökotrophologin an der Universität Münster, kulinarische Zukunftsvisionen. Diese setzen sich laut Strassner aus zwei Aspekten zusammen: der sogenannten „Planetary Health Diet“ sowie dem Ertrag, den lokale Flächen künftig ökologisch hergeben. Perspektivisch werden demnach Gemüse und Hülsenfrüchte im Zentrum stehen. Dabei sollte die Vielfalt der Lebensmittel möglichst nicht durch chemische und technische Verarbeitungsprozesse, sondern durch Methoden wie Fermentation und die Nutzung von Gewürzen entstehen, erklärte Strassner.

Politische Ziele

Die Themen auf deutscher Ebene anzupacken, versprach die parlamentarische Staatssekretärin Dr. Ophelia Nick: „Wir werden die Rahmenbedingungen für 30 Prozent Ökolandbau verstärken und dabei auch das Thema der wahren Preise anschauen. Außerdem wollen wir in öffentlichen Kantinen, also Kindergärten und Schulen, den Öko-Anteil heben und prüfen, wie dort eine gesunde, regionale und ökologische Ernährung verbessert werden kann.“

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