Biohandel

Wissen. Was die Bio-Branche bewegt

Lebensmittelverschwendung

Ist das noch gut, oder muss das weg?

Der Naturkostfachhandel spielt eine zentrale Rolle im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung. Doch auch modernste Technologie wird nicht verhindern, dass Ware weiter in der Tonne landet.

Seit dem 2. Mai 2021 hat die Lebensmittelverschwendung in Deutschland ein Ende – zumindest für dieses Jahr und das auch nur rein rechnerisch. Statistisch, so rechnet die Umweltorganisation WWF vor, wurde bis zu diesem Datum nicht für den Teller, sondern für die Tonne produziert. Bundesweit landen jedes Jahr schätzungsweise rund 380 Kilogramm an Nahrungsmitteln pro Sekunde im Müll, darunter auch solche, die eigentlich noch essbar wären. Handfeste Daten gibt es nicht, weil Weggeworfenes bislang nicht systematisch registriert wurde – auch nicht im Lebensmitteleinzelhandel. Das ändert sich jedoch gerade.

Die Bundesregierung will gemäß den Nachhaltigkeitszielen der Vereinten Nationen, die Lebensmittelabfälle im Handel und bei Verbrauchern bis zum Jahr 2030 halbieren. Damit das gelingt, lässt sie seit 2019 innerhalb ihrer „Nationalen Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung“ belastbare Zahlen generieren – unter anderem von konventionellen und Bio-Supermarktketten im sogenannten „Dialogforum Groß- und Einzelhandel“.

Lebensmittelverschwendung kostet Handel Milliarden

2019 mussten Händler nach Berechnungen des Thünen-Instituts rund 420.000 Tonnen an Lebensmitteln im Wert von 2,5 Milliarden Euro abschreiben (s. Grafik). Zieht man davon Lebensmittelspenden ab, landeten rund 290 Tausend Tonnen an Lebensmitteln im Wert von 1,7 Milliarden Euro im Müll.

Der mengenmäßig größte Schwund fällt in der Obst- und Gemüseabteilung an – auch im Naturkostfachhandel. „Der Hauptteil der entsorgten Lebensmittel sind verdorbenes Obst und Gemüse“, beschreibt Marvin Tjaden, technische Leitung und Marketing bei Tjaden’s Bio Frischemarkt die Situation in den dortigen Filialen. Auch im Füllhorn in Karlsruhe komme das meiste, das weggeworfen werden müsse, aus der Obst- und Gemüseabteilung, so Marktleiterin Sabine Vorwald.

Der Transport und die Herstellung von Lebensmitteln verbrauchen Energie, wertvolle Rohstoffe und setzen CO2 frei. Je später in der Wertschöpfungskette sie entsorgt werden müssen, umso schlechter für das Klima. Zwar trägt der organisierte Lebensmitteleinzelhandel den Thünen-Zahlen zufolge insgesamt weniger als vier Prozent zur Verschwendung bei. Gleichwohl haben LEH, Discounter und auch der Naturkostfachhandel eine zentrale Rolle, wenn es darum geht, dass insgesamt weniger Essen auf dem Müll landen soll. Denn sie bilden einerseits die Schnittstelle zu den Verbrauchern, die mit 50 bis 60 Prozent den Löwenanteil an Nahrungsmitteln wegwerfen. Andererseits entscheiden die Läden, welche Ware in welchem Zustand und in welchen Mengen überhaupt in den Verkauf kommt.

Digitalisierung macht Bedarfsplanung genauer

Um den Schwund so gering wie möglich zu halten, setzen Groß- und Einzelhändler immer ausgefeiltere Systeme zur Bedarfsplanung ein, die Faktoren wie historische Bestellmengen, Feiertage, Eigenheiten in den Filialen oder den Wetterbericht berücksichtigen. Dabei spielt Künstliche Intelligenz (KI) eine immer größere Rolle. Tegut etwa arbeitet daran, Lieferanten verstärkt in seine Warenwirtschaftssysteme einzubinden und Bestellvorschläge mit Hilfe von KI genauer zu machen. „Die großen LEH-Ketten sind hier bereits auf einem hohen Entwicklungsstand“, sagt Alexander Pöhl von der Unternehmensberatung Oliver Wyman. Aber auch im Naturkostfachhandel tut sich digital was.

Kunden des Bio-Filialisten Superbiomarkt (SBM) bekommen ihr Obst und Gemüse vom Biohof Elfrich, der Landwirtschaft per Hochtechnologie betreibt und von der Aussaat bis zur Ernte alles, was auf den Feldern passiert, digital erfasst, kontrolliert und steuert. Die Bestellungen der SBM-Filialen werden dort per Software in Echtzeit abgewickelt. Änderungen sind so bis zum Erntebeginn möglich. Dafür geben die Mitarbeiter in den Märkten ihre Bestellungen in einen Handscanner ein, die digital an den Hof übermittelt und dort zu einer Ernteliste werden. „Wir produzieren nur so viel, wie unsere Abnehmer benötigen“, erklärt Elfrich.

Damit die Filialen wissen, wie viel von welcher Ware sie tatsächlich brauchen, haben die Mitarbeiter dort zuvor akribisch erfasst, was in die Märkte reingeht, was verkauft wird und wo es Schwund gibt. Entstanden ist daraus eine dezidierte Übersicht, welche Produkte wo an welchen Tagen und in welcher Anzahl gebraucht werden. „Wir können ziemlich genaue Vorhersagen darüber treffen, was wir brauchen und wann“, sagt SBM-Vorstandsvorsitzender Michael Radau. Auf dieser Grundlage werde bei Elfrich gesät und geerntet. „Da kommt nicht plötzlich ein Feld hoch mit 3.000 Eichblatt-Salatköpfen und wir brauchen nur 600“, so Radau.

Wichtig ist das Frischefenster

Der „Gemüseanbau on demand“ hat gleich zwei Vorteile: Er verhindert, dass zu viel produziert wird. Gleichzeitig verbessert sich das Frischefenster der Produkte. „Durch die Kooperation mit Hof Elfrich liegen zwischen Ernte und Anlieferung in unsere Läden noch 24 bis 36 Stunden“, sagt Radau. Eine deutliche Zeitersparnis gegenüber dem konventionellen Weg, wo schon mal bis zu zehn Tage verstreichen können, bis die Ware im Laden liegt. „Das gibt dem Produkt noch einmal eine ganz andere Frische“, so Radau.

Das Frischefenster ist für Berater Pöhl eine wesentliche Stellschraube im Kampf gegen Lebensmittelverschwendung: „Das Ziel muss sein, dem Kunden ein Lebensmittel zu verkaufen, das eine möglichst lange Lebenszeit bei ihm hat“. Je schneller der Salat vom Acker in den Laden kommt und dort verkauft wird, umso länger hat der Verbraucher Zeit, ihn zu verzehren – und die Wahrscheinlichkeit, dass der Salat im Hausmüll landet, wird geringer. Das erfordert auch ein strenges Auge auf das Sortiment. „Wenn die Auswahl zu groß wird, sinkt die Umschlagsgeschwindigkeit einzelner Artikel und damit ihr Frischegrad, was sich wiederum negativ auf die Umlaufgeschwindigkeit auswirkt“, sagt Pöhl. So entstehe eine Spirale aus sinkenden Umsätzen und steigenden Verlusten durch Verderb.

Das Ziel muss sein, dem Kunden ein Lebensmittel zu verkaufen, das eine möglichst lange Lebenszeit bei ihm hat.

Alexander Pöhl von der Unternehmensberatung Oliver Wyman

Besonders im Bioladen kommt es bei Obst und Gemüse auf Schnelligkeit an. Anders als in LEH und Discount wird hier bei vielen Produkten auf Plastikverpackungen verzichtet, die länger vor dem Verderb schützen können. Rewe hat in Tests festgestellt, dass Bio-Eisbergsalat und -Broccoli ohne Folie deutlich schneller an Frische verlieren. Das Forschungsprojekt „Stopp Waste, Save Food“ hat gezeigt, dass optimierte Verpackungen die Abfallrate im Handel signifikant senken können.

Wie groß der Schwundrückgang bei Obst und Gemüse durch die Digitalisierung ist, kann Radau noch nicht beziffern. „Dazu ist die Datenlage noch zu dünn.“ Doch er ist überzeugt, dass smarte Technologie hilft. Auch deshalb ist SBM in Gesprächen mit dem Start-up Antegon, das mit „FoodTracks“ ein KI-basiertes Prognosesystem für Backwaren entwickelt hat. 2019 wurden davon im organisierten Handel über 100.000 Tonnen zu viel produziert.

Auch ohne Hightech kann Verschwendung vermieden werden

Die Bio Company ist hier bereits einen Schritt weiter. Seit Mitte Mai hilft „FoodTracks“ dem Backthekenpersonal in den Filialen dabei, die Nachfrage besser zu prognostizieren und die Bestellmengen zu optimieren. Das System, das auf vorherige Abverkäufe zurückgreift und wiederkehrende Muster erkennen kann, muss einen schwierigen Spagat schaffen: Es soll dafür sorgen, dass Kunden auch noch kurz vor Ladenschluss ihr Lieblingsbrot bekommen und gleichzeitig die Menge an übriggebliebenen Waren auf ein Minimum reduzieren.

Es müssen aber nicht immer digitale Lösungen sein, um Lebensmittelverschwendung zu vermeiden. Solche Prozesse erfordern viel technisches Knowhow. „So eine Integration ist für kleinere Läden schon sehr viel Aufwand“, sagt Pöhl. Für Ladner, die ganz nah dran sind an ihren Kunden und den Produkten, sieht er keine unbedingte Notwendigkeit, Prozesse aufwendig zu digitalisieren. „Es gibt Märkte, da sieht man trotz Einführung eines solchen Systems kaum Verbesserungen. Weil das Personal viel Erfahrung hat.“

Wichtig sei es, sagt Pöhl, sich Transparenz zu verschaffen über Verkaufsmengen und Abschriften. Das gehe zur Not auch mit Zettel und Stift. Der Ladner müsse verstehen, warum er Waren abschreiben muss. Und er müsse ermitteln, wie schnell sich die Produkte verkaufen, auch im Verhältnis zu ihren Liefergrößen. „Wenn ich für einen Standardkarton mit zwölf Mangos zwölf Wochen brauche, um alles zu verkaufen, muss ich schauen, ob ich die auch in kleineren Liefereinheiten bekomme, andernfalls ist die Ware womöglich nichts für mein Geschäft.“

Bio-Käufer wollen Lebensmittelabfälle vermeiden

Die Überproduktion von Lebensmitteln ist schon lange ein Problem. Doch erst im Zuge des Klimawandels gewinnt das Thema verstärkt an Bedeutung. „Als Bio-Fachmarkt spüren wir, dass Einkäufe zunehmend bewusst gestaltet werden“, sagt Lukas Nossol, Leitung Kommunikation beim BioMarkt Verbund. Laut einer Befragung der Universität Kassel-Witzenhausen fühlen sich viele Bio-Käufer moralisch verpflichtet, etwas gegen Lebensmittelabfälle zu tun und hätten gerne mehr Hilfestellung dabei.

Läden bietet das die Möglichkeit, dieses Bedürfnis aufzugreifen und Tipps zu geben, etwa zur richtigen Lagerung von Obst und Gemüse, damit zuhause länger frisch bleibt, was noch auf den Teller soll. Außerdem könnten sie erklären, warum Obst, das äußerlich vom Idealzustand abweicht (s. Kasten), trotzdem schmeckt und nicht – wie häufig üblich – weit unter dem Preis seiner „perfekten“ Artgenossen verkauft wird.

Denn heftige Preisreduktionen machen Produkte nicht unbedingt attraktiver, sondern können Qualitätsbedenken auslösen. Im Vergleich zu einem Kilo wohlgeformter Bio-Äpfel für 2,99 Euro waren die Teilnehmer der Kasseler Studie zufolge durchschnittlich bereit, für verformte Ware 30 Prozent weniger zu bezahlen. Die Fördergemeinschaft Ökologischer Obstbau hat in einer bundesweiten Blindverkostung zudem ermittelt, dass Bio-Äpfel mit leichten Schalenfehlern mitunter besser schmecken als Äpfel der Klasse I.

Tipps gegen die Tonne

  • Verpackung reduzieren: Große Gebinde zwingen Kunden dazu, mehr zu kaufen als sie benötigen. Unverpackte und lose Ware kann portionsgenau verkauft werden.
  • Mut zur Hässlichkeit: Auch Obst und Gemüse (O&G), das nicht der Norm entspricht, schmeckt. Kurze, hurmorvolle Infos, warum es natürlich ist, dass Möhren auch mal krumm oder Kohlrabi besonders klein sind, bringen Aufmerksamkeit. Der LEH macht es mit seinen „Bio-Helden“ (Penny), „Krummen Dingern“ (Aldi) und „Wunderlingen“ (Billa) bereits vor.
  • Kunden konfrontieren: Je sichtbarer unvollkommene Lebensmittel platziert werden, um so eher gewöhnen sich die Kundinnen und Kunden an den Anblick. Mischbeutel mit „hübschem“ und „hässlichem“ Obst und Gemüse können bei der „Eingewöhnung“ der Verbraucher ebenfalls helfen.
  • Kein 2 für 1: „Kauf eins, nimm zwei“-Angebote verführen Kunden dazu, mehr zu kaufen, als sie verbrauchen. Auf „Multi-Buy“-Aktionen sollte daher verzichtet werden.
  • O&G-Personal: Eine Bedienung für O&G verhindert, dass Kunden Ware beschädigen und diese dann liegen bleibt. Der Naturkostladen Hollerbirl macht das. Für zahlreiche Kunden ist das ein Argument, ihr O&G dort einzukaufen.

Zu gut für den Abfall

Auch mit den besten Prognosen und Vermarktungsstrategien werden weiter Lebensmittel liegenbleiben. Für alles, was noch essbar ist, lassen sich Tjaden‘s Bio Frischemarkt, Füllhorn und alle anderen großen und kleinen Bio-Läden bereits einiges einfallen (BioHandel-Ausgabe 11/2016). Preisreduzierung bei Produkten über dem MHD, Resteverwertung im Bistro, Ausgabe an Mitarbeiter oder Spenden an Foodsharing- Netzwerke wie die Tafeln.

Immer mehr Läden setzen zudem auf die kostenlose App von Too Good To Go (TGTG) und verkaufen über diese übriggebliebene Ware für ein Drittel des ursprünglichen Verkaufswerts. Eine „Win-Win-Win“ Situation, nennt das TGTG: Die Händler reduzieren die Verschwendung und gewinnen neue Kunden, die Nutzer bekommen gutes Essen günstiger und die Umwelt profitiert. Die großen Bio-Ketten sind bereits Partnerläden. „Die Zusammenarbeit mit Bio-Supermärkten ist ein wichtiger Schwerpunkt“, heißt es bei TGTG. Darüber hinaus gebe es Kooperationen mit knapp 100 unabhängigen Bio-Fachgeschäften.

Dass Lebensmittelverschwendung einmal passé sein wird, glaubt Michael Radau nicht. „Wenn das überhaupt möglich ist, wäre der Aufwand dafür gigantisch“, sagt er. Alexander Pöhl sieht das ähnlich: „Das Ziel ist nicht, Lebensmittelverschwendung so klein wie möglich zu halten, sondern die richtige Balance zu finden“. Auf der einen Seite sei da der Markt, der keine Abschriften aber vor Ladenschluss leere Regale habe und so weniger Umsatz mache. Auf der anderen Seite sorgen stets volle Auslagen zwar für mehr Geld in der Kasse – aber eben auch für Abfall. Pöhls Fazit: „Die Kunst im Handel ist es, beide Pole so auszubalancieren, dass am Ende das wirtschaftliche Optimum erreicht wird.“

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