Biohandel

Wissen. Was die Bio-Branche bewegt

Alnatura-Campus:

Symbiose von Lehm und Holz

Alnatura hat in Darmstadt einen neuen Stammsitz errichtet. Die zeitgemäße Architektur spiegelt die Firmenphilosophie wider und setzt nicht nur in der Ressourceneffizienz Maßstäbe.

Bio-Händler Alnatura hat seinen Verwaltungssitz von Bickenbach nach Darmstadt verlegt – und dafür ein altes Kasernengelände zu einem öffentlichen Lern- und Begegnungsort umgewidmet. Die ehemaligen Kelley-Barracks standen seit 2008 leer. Am südwestlichen Rand von Darmstadt

gelegen, gelangte die verkehrstechnisch gut erschlossene Fläche im Zuge des urbanen Wachstums jedoch mehr und mehr in den Fokus der Stadtplaner. Mit der Errichtung des Alnatura Campus wird das Gelände nun wieder genutzt: Neben dem neuen Verwaltungssitz finden sich hier ein frei zugängliches, vegetarisches Bio-Restaurant, ein Park, Teiche und Sportflächen, sowie ein öffentlicher Waldorfkindergarten mit angegliedertem Ökolandbau, der die Prozesskette der biologischen Nahrungsmittelerzeugung von der Aussaat bis zum fertigen Lebensmittel veranschaulicht.

Anthroposophisches Vorzeigeprojekt

Mehr Konversion als bei einem solchen Bauvorhaben kann man sich kaum vorstellen: Wo einst Soldaten trainiert wurden, steht heute ein anthroposophisches Vorzeigeprojekt naturnahen Bauens und Wirtschaftens mit sozialer Verantwortung für die Gemeinschaft. Die neue Alnatura-Zentrale – Europas größtes Bürogebäude aus Lehm – ist 94 Meter lang, 41 Meter breit, 19 Meter hoch und hält auf drei Etagen Arbeitsraum für 500 Mitarbeiter bereit. Der klassisch anmutende Bürokomplex besteht aus zwei uralten Naturbaustoffen: die massive Gebäudehülle aus Stampflehmelementen, das Dachtragwerk aus Holz. Den Innenraum prägt zudem eine geschwungene Konstruktion aus Stahlbeton, die den offenen Charakter des Verwaltungsgebäudes trägt und ihn zugleich strukturiert.

Großzügiges Atrium als Zentrum

Der römischen Architektur entlehnt, bildet ein großzügig dimensioniertes Atrium das Zentrum des Gebäudeinneren als Dreh- und Angelpunkt, als Ort von Begegnung und Kommunikation. Die in weiten Teilen offen gehaltenen Büros, die allesamt vom Atrium aus erschlossen werden, gruppieren sich auf drei Ebenen unter dem markanten Dachtragwerk. Damit die Mitarbeiter die gegenüberliegenden Bürotrakte auf den jeweiligen Etagen sofort erreichen können, installierte man im Obergeschoss einen, und im Dachgeschoss gleich drei Holz-Beton-Verbundstege. Die bis in die Mitte des Atriums auskragenden Bogenträger aus Brettschichtholz reichen bis zum First in der Höhe von 19 Meter beziehungsweise zur Kante des zu öffnenden Lichtbands. Letzteres ist Teil der asymmetrischen Ausführung des Dachfirsts, wodurch gleichmäßiges, blendfreies Nordlicht für eine angenehme, natürliche Beleuchtung sorgt und nur geringfügig zur sommerlichen Aufheizung des Gebäudes beiträgt.

Stampflehmelemente aus natürlichen Erden

Die Gebäudehülle des neuen Alnatura-Stammsitzes wartet mit einer Bauweise auf, die hinsichtlich Materialwahl und -verarbeitung, Dauerhaftigkeit und Recyclingfähigkeit, Wohngesundheit und Energiebilanz ihresgleichen sucht: Stampflehmelemente aus einfachen, unbehandelten Erden, Kiesen und Sanden. Der Clou beim Bauen mit Stampflehm liegt darin, dass in einem Prozess die sich selbst tragende Gebäudehülle inklusive der Fassade und der finalen Innenraumoberflächen gebildet werden, die man abschließend nur noch leicht händisch nachmodelliert und schleift. Der österreichische Lehmbau-Pionier Martin Rauch hat für das Konzept und die Ausführung persönlich verantwortlich gezeichnet.

Schadstofffreie Urbauweise schont Ressourcen

Zu Beginn wird bei jedem Bauvorhaben ausgelotet, wo gerade Bodenaushub anfällt, Schotter lagert, wo Kiese und Lehm beheimatet sind. Viel mehr als die Transportkosten fallen bei der Beschaffung der Baustoffe in einem Umkreis von etwa 150 Kilometer vom Bauplatz nicht an – die schadstofffreie Urbauweise schont mehr als eine Ressource. Martin Rauch hat in jahrelangen Versuchen die Rezepturen und Mischungsverhältnisse von Lehm, Ton, Sand, Kies und Schotter mit einem definierten Feuchtegehalt erprobt und weiterentwickelt. Laut seiner Aussage stehen nahezu überall in der Welt genügend Mengen an baufähigen Erden ubiquitär zur Verfügung. Beim Alnatura-Bau produzierten er und sein Team vor Ort in einer ehemaligen Panzerhalle insgesamt 384 Stampflehmelemente mittels einer von ihm konzipierten, mechanischen Schalungsstraße von 35 Meter Länge. Dabei mischten die Lehmbauer verschiedene Ausgangsmaterialien wie Lehm aus dem Westerwald, Lava-Schotter aus der Eifel, Tunnelaushub vom Bauvorhaben Stuttgart21 sowie Abbruchmaterial der Kelley Barracks.

Danach wurde die Holzschalung mit der erdfeuchten Mischung inklusive einer mittigen Dämmschicht aus Schaumglasschotter befüllt und anschließend unter hohem Druck in mehreren Arbeitsgängen miteinander verpresst.

Nuten für den Einbau von Regenrohren und Fenstern

Die fertig gestampften, fugenlosen und monolithischen Lehmelemente wiegen zwischen drei und viereinhalb Tonnen, sind etwa 70 Zentimeter dick, ca. einen Meter hoch und bis zu dreieinhalb Meter lang. Nach dem Aushärten wurden mit einem Hammer in die Stirn- und Oberseiten vertikale und horizontale Nuten geschlagen, für den späteren Einbau der Regenrohre und die Geschosse durchlaufenden, großflächigen Fenster. Danach stellte man die Wandelemente wettergeschützt auf Paletten zum Austrocknen, bevor sie mit einem Kran Block für Block zur Gebäudehülle aufgebaut wurden. Jedes Geschoss besteht aus vier übereinander platzierten und mit Lehmmörtel setzungssicher verbundenen Stampflehmelementen, die mit einbetonierten Stahlankern an den Geschossdecken verankert wurden. In Abhängigkeit von Wind und Niederschlag, Hitze- und Frostperioden rechnet Martin Rauch mit einer natürlichen Erosion der frei bewitterten Außenwand von gerade mal ein bis zwei Zentimeter in 70 Jahren, die dann als feinkörnige Sande wieder dorthin zurückkehren, woher sie kommen: in das Erdreich.

Ökologische Rohstoffbilanz sucht ihresgleichen

Eine gesamtökologische Rohstoffbilanz, die ihresgleichen sucht – nicht nur im Bauwesen. Dabei wird zuerst die obere Lehmschicht ausgewaschen, so dass die Fassade rauer und steiniger erscheint und der Trasskalkmörtel hervorkommt.

Lehmwände sorgen für angenehmes Raumklima

Im Gebäudeinneren sorgen die diffusionsoffenen Stampflehmwände für ein allzeit angenehmes Raumklima, wirken kühlend an heißen Sommertagen, und spenden eine behagliche Raumwärme in kalten Wintern. Beim Alnatura-Bau hat man erstmals die Heizschleifen der Wandheizung in den Produktionsprozess der Stampflehmelemente integriert, die, da dual ausgelegt, zugleich als Kühleinheit eingesetzt werden. Das gesamte energetische Versorgungskonzept des Bürogebäudes ist modular aufgebaut. Die Basis bildet eine emissionsfreie Versorgung über Geothermie, bei der die Wärmeenergie des Erdreichs über Erdsonden an Wärmepumpen weitergeleitet und von diesen dem Gebäude zur Verfügung gestellt wird. Der dafür benötigte Strom wird über eine große PV-Anlage auf dem Dach selbst erzeugt. Über zwei Erdkanäle aus dem nahegelegenen Wald werden die Räume mit vortemperierter Frischluft versorgt, die zudem für die Übergangszeiten mit einem Bypass ausgestattet wurden, damit die Luft nicht unnötig abgekühlt wird. Des Weiteren sorgt eine tageslichtabhängige Beleuchtungssteuerung für optimierte Lichtverhältnisse an den Arbeitsplätzen, während zu öffnende, dreifach verglaste Fenster individuelle Lüftungsbedürfnisse erfüllen und außenliegende Raffstores an heißen Sommertagen Hitzeschutz bieten.

Mehr cradle-to-cradle geht fast nicht

In Summe gilt es zu konstatieren, dass der Verbindung von Holz und Lehm die zu errichtende Zukunft gehört. Holz, weil es mit seinen bekannten Bauqualitäten und positiven Effekten für Flora, Fauna, Mensch und Klima ‚einfach‘ nachwächst, und Lehm, weil der Planet Erde in weiten Teilen aus ebendiesem Urmaterial besteht. Deren Kombination ermöglicht energieextensive und wohngesunde Bauweisen, unter geringstmöglicher Energie[-]zufuhr und Emissionen sowie einem dementsprechend geringstmöglichen Anteil an grauer Energie. Hält man zudem beide Baustoffe frei von Chemikalien und künstlichen Fremdstoffen, so entsteht eine lückenlose und rückstandsfreie Prozesskette von der Planung über den Bau und die Nutzungsphase bis zur Rückführung in den Naturprozess, aus dem die nächsten Generationen beider Baustoffe hervorgehen. Mehr cradle-to-cradle geht fast nicht.

Flächen und Kennwerte

Baugrundstück: 55.500 m²

Bruttogrundfläche: 13.500 m²

Geschossfläche: 10.000 m²

Bauphase: 2016 – 2018

Baukosten: ca. 10 Mio. Euro

Kommentare

Registrieren oder anmelden, um zu kommentieren.

Auch interessant: