Die Welt steht Kopf für den Biofachhandel: Vor den Aldi-Filialen werben schon seit längerem Schilder für den „Bio-Händler Nr. 1“ und seit kurzem macht auch noch Edeka dem Discounter diesen selbstverliehenen Titel streitig. In Rewe-Kühlabteilungen setzen sich Tofu, Mozzarella, Reibegouda und Hähnchenbrustfilet mit dem Naturland-Logo in Szene. Und Sonnentor-Gewürze paradieren seit Anfang des Jahres in den Tegut-Regalen.
Die Grenzen zwischen Fach- und konventionellem Einzelhandel verschwimmen. Was soll die Kunden noch in die Bio-Läden ziehen, wenn sie gutes Bio auch woanders bekommen? Wie kann sich der Fachhandel noch retten?
Stephan Rüschen, Professor für Lebensmittelhandel an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Heilbronn, hat die Lage analysiert und gemeinsam mit 13 Experten Auswege formuliert. Ergebnisse seiner Studie stellte er bei den Ökomarketingtagen vor.
Fachhandel verliert an Bedeutung
„Wenn ich’s mal ganz böse sagen würde: Man braucht den Fachhandel nicht für einen relativ höheren Bio-Anteil“, provozierte der Handels-Experte gleich zu Anfang seines Vortrags. Während die Deutschen mit einem noch relativ hohen Fachhandelsanteil von 30 Prozent gerade mal auf sechs bis sieben Prozent Bio bei den Lebensmitteln kämen, gelänge es den Österreichern einen Bioanteil von elf Prozent zu stemmen, obwohl sie gerade mal mit einem Anteil von zehn Prozent zum Lebensmittelhandel beitragen.
Ein weiterer Aspekt des Desasters: Der Fachhandel verliert an Bedeutung in Deutschland. Er gibt Marktanteile an den LEH ab, insbesondere aber an Discounter und Drogeriemärkte. Im ersten Halbjahr 2023 verloren die Bio-Fachmärkte gegenüber dem Vorjahr 6,9 Prozent, daneben machten Drogeriemärkte und Discounter zusammen 19,8 Prozent gut.
„So wie es Basic ging, könnte es auch anderen gehen.“
Verloren gegangen ist auch das, womit sich der Fachhandel jahrelang vom LEH absetzte: Herstellermarken und Verbandslogo. Damit werben jetzt die konventionellen Märkte. Aldi hat mit Nur Nur Natur eine eigene Premium-Biomarke in seine Filialen gebracht und auf der anderen Seite, bei den Fachhändlern, machen sich die preiswerten Handelsmarken breit. Es sieht nicht rosig aus für die Branche: In einem kleinen Städtchen wie Backnang machten 2023 zwei von drei Bioläden zu, die Filialisten Biomammut und Basic gaben auf, Superbiomarkt zog sich jüngst gerade nochmal an den eigenen Haaren aus dem Sumpf.
„So wie es Basic ging, könnte es auch anderen gehen“, warnt Rüschen im Gespräch. Der Bio-Fachhandel laufe Gefahr, sich auf einen Nischenplayer im Biomarkt zu reduzieren.
Frage: Wie kann sich der Fachandel differenzieren? Antwort: Schwierig!
Für seine Studie führte er anonymisierte Interviews mit 13 Experten, Biohändlern, Bioherstellern und Vertretern des konventionellen LEH. Zur Frage, wie sich der Fachhandel vom LEH differenzieren kann, hätten die 13 fast alle dasselbe Wort verwendet: „Schwierig“.
Es kristallisierten sich aber doch drei Optionen heraus.
- Modell 1: Umorganisieren des Fachhandels in eine Händler-Genossenschaft, vergleichbar mit Edeka, „ein extrem erfolgreiches Modell“, warb Rüschen. Mit einer Dienstleister-Zentrale, die den Händlern gehört, keine eigenen Gewinne machen soll und den Fachhändlern genügend Freiraum lässt. Die selbstständigen Händlergenossen seien bei Edeka höher motiviert und erfolgreicher als die angestellten Filialleiter.
- Modell 2: Bio-Fachhandel als Community. Wer Kundinnen und Kunden zu Genossenschaftlern, also Mitbesitzenden mache, erreiche eine extrem hohe Kundenbindung. Zielgruppe sind Menschen, für die Bio eine Werthaltung ist, nicht nur ein Produkt.
- Modell 3: Bio-Fachhandel als Whole Foods, mit einem Sortiment, das nicht ausschließlich Bio präsentiert, sondern allgemein die Ansprüche gesund und nachhaltig bedient. Whole Foods-Supermärkte gibt es in den USA, Kanada und Großbritannien.
- Eine vierte Option, Fachhandel als Discounter, verwarfen die Experten. „Denn eine Zielgruppe, die günstig kaufen möchte, würde in den normalen Discounter gehen“, vermutet Rüschen.
Die Zuhörenden bei den Ökomarketingtagen seien mit solchen Ideen nicht so glücklich gewesen, berichtet der Professor für Lebensmittelhandel. Anders als ein Großteil der Expertinnen und Experten, die, egal ob biosympathisierend oder nicht, offenbar dem einen oder anderen Modell schon etwas abgewinnen konnten.
Modell 1: Vorbild Edeka
Viele Experten trauten dem Edeka-Modell Chancen zu. Am ehesten komme heute schon Dennree dieser Organisationsform entgegen, meint Rüschen. Ein großer Unterschied: Die Zentrale, die als Großhändler Geld verdienen will. Aber mit dem Bio-Markt-Verbund angeschlossener Biohändler gehe es schon in die entsprechende Richtung. Allerdings, Dennree zu Edeka umzubauen – hier sagt Rüschen: „Schwierig. Da müssten die Einzelhändler die Zentrale kaufen.“
Alnatura-Geschäftsführer Götz Rehn äußerte sich vor einiger Zeit gegenüber der „Lebensmittel Praxis“ zu den drei Strategien. Eine Umstrukturierung des Fachhandels in Richtung Edeka hält er für „weit weg von der Bio-Realität. Das ginge durch Kooperationen, aber dafür müsste die Branche weiter sein.“
Michael Schneider, Geschäftsführer des Marktladen in Tübingen, vermutet, die Umsätze des Fachhandels würden nicht einmal reichen, um die Zentrale zu finanzieren. „Logischer wäre ein Zusammenschluss von Großhändlern.“ Außerdem ginge eine zentrale Lösung auf Kosten der Regionalität, die er mit der von ihm mitinitiierten Xäls-Genossenschaft ja gerade fördern will.
Empfehlungen für inhabergeführte Naturkostläden
Mögliche Strategien für die Bio-Branche im Großen stellen Prof. Stephan Rüschen und Julia Schumacher im Whitepaper „Zeitenwende im Bio-Fachhandel“ vor.
Wie der Bio-Fachhandel individuell Kunden gewinnen kann, untersuchte eine Rheingold-Studie, die der bio verlag 2021 in Auftrag gegeben hat. Grundlage waren 32 Tiefeninterviews mit Kunden aus dem Fachhandel und dem LEH. Was den Fachhandel vom konventionellen LEH abhebt, ist demnach die gemeinsame Gesinnung mit den Kunden: Es geht um Bio und um die gemeinsame Verantwortung gegenüber dem kompletten Naturkreislauf. Daraus resultierten konkrete Empfehlungen für inhabergeführte Naturkostläden.
Organisationsentwickler Christoph Spahn hält die Option Edeka für „sehr behäbig“. Sich mit diesem Konstrukt zu positionieren, ginge allein schon wegen seiner Größe am ehesten über den Preis. „Aber das (Niedrig-)Preisimage haben schon Lidl und Aldi besetzt.“ Und Kunden davon zu überzeugen, dass Fachhandel sich über den Preis positioniert, hält er schlicht für unmöglich.“
Ähnlich sieht das auch Rüschen: „Ein schlechtes Preisimage lässt sich wahrscheinlich gar nicht drehen“, vermutet er. Kaum ein Kunde kenne Preise, die meisten verließen sich auf das Image, das ein Lebensmittelhändler besetzt. „Sie verstehen bis heute nicht, dass Produkte bei Aldi gleich viel kosten wie bei Edeka oder Rewe,“ sagt er. „Die meisten wissen auch nicht, dass der Fachhandel Eigenmarken anbietet.“
Modell 2: Die Community
Als Beispiele für das Community-Modell nennt die Studie drei Unternehmen: Foodhub in München, Supercoop in Berlin und Odin in den Niederlanden. Foodhub, Kunden-Genossenschaft und Mitmach-Supermarkt öffnete im Juli 2021 seine Türen. Mitglieder zahlen einen einmaligen Betrag als Genossenschaftsanteil und arbeiten monatlich drei Stunden im Supermarkt mit. Die Preise sollen dafür günstiger sein als im üblichen Biohandel, mit einem standardisierten Aufschlag von 30 Prozent auf den Einkaufspreis.
„Wir haben schon über 2.000 Mitglieder“, berichtet Quentin Orain, neben Karl Schweisfurth und anderen ein Initiator der Genossenschaft. Der Vollsortimenter bietet 4.500 Produkte, vorwiegend Bio, regional, saisonal. Mitglieder leisten 80 Prozent der anfallenden Arbeit, berichtet Orain, ab 2.500 Mitgliedern rechne man mit schwarzen Zahlen. Der Supercoop in Berlin funktioniert ähnlich. In ihm können Genossinnen und Genossen seit Herbst 2021 einkaufen und mitarbeiten.
Odin hingegen existiert schon seit 1983. 2018 schlossen sich zwei Bio-Pioniere zusammen: ein genossenschaftlich geführter Bio-Großhandel und ein ebenfalls genossenschaftlich organisierter Bio-Mischbetrieb, gestartet als Liefer- und Handelsdienstleister. Nach und nach sind Bioläden dazugekommen. Bei Odin müssen Genossinnen und Genossen nicht mitarbeiten, können aber monatlich einen Betrag einzahlen und bekommen dann Rabatt auf ihre Lebensmittel. 40 Märkte bieten 7.000 Produkte an, 18.000 Genossenschaftsmitglieder unterstützen das Unternehmen.
Odin als Prototyp für die deutsche Naturkostbranche? – Stephan Rüschen hält das für möglich. Projekte wie Supercoop oder Foodhub werden seiner Ansicht nach vermutlich in der Nische bleiben.
Götz Rehn hält die Idee für interessant, aber nur in Großstädten für realisierbar. Michael Schneider gesteht zwar zu, dass das gemeinsame Erlebnis in der Community Kunden bindet, sieht aber in der Organisation so vieler Mitglieder als Mitarbeitende einen Schwachpunkt: „Viel zu aufwändig.“
Sein Leuchtturmprojekt in Sachen Community ist die genossenschaftlich organisierte Landwege Erzeuger-Verbraucher-Gemeinschaft in Lübeck, mit fünf Bioläden und einer Biobäckerei und ohne Einbindung der Kundschaft als Mitarbeitende. Die Genossenschaft besteht schon seit über 30 Jahren. Ziel des Zusammenschlusses sind aber nicht niedrigere Preise, sondern die Unterstützung und der Erhalt regionaler Strukturen. „Sie haben eine unglaubliche regionale Präsenz, binden Menschen an sich und sind vermutlich stabiler als jedes andere Modell“, sagt der Tübinger Xäls-Genossenschaftler.
Naturkosthändler wird zum Community-Manager
Für Christoph Spahn hat das Community-Modell „viel Potenzial“. Kollegen des Organisationsentwicklers arbeiten mit einigen Unverpackt-Läden zusammen, die sich auf den Weg gemacht haben in Richtung Community: „Ich kann mir gut vorstellen, dass wir so etwas in den nächsten Jahren vermehrt sehen werden.“
Auf der Biofach stellte Spahns Kollege die Idee vor. Beide gehören zu Iniciato, einem Beratungsteam, das in der Bio-Branche und verwandten Milieus coacht. Als großen Pluspunkt markiert Spahn die Verbindlichkeit, die durch diese Art der Einbindung entsteht. Die Jobbeschreibung eines Naturkosthändlers mit Community würde sich deutlich ändern, vermutet er. „Im Hauptberuf wäre er Community Manager, das bedeutet, mit den Leuten reden, reden, reden.“
Der Organisationsentwickler glaubt nicht daran, dass Community-Projekte als reine Bioläden funktionieren, vielmehr gehe es um die Vermarktung von Nachhaltigkeit. Und, um einmal die Kundenperspektive mit reinzunehmen: „Die wenigsten kaufen 100 Prozent Bio.“
Modell 3: Vorbild Whole Foods / Tegut
100 Prozent Bio sind genau der Knackpunkt des Whole Foods-Modells. Hier sieht Rüschen in Tegut ein Vorbild, auf dem sich aufbauen ließe. 30 Prozent Bio charakterisieren das Sortiment und für einen Teil der Handelsmarken gilt ein Reinheitsversprechen, Bio light sozusagen. „Die müssen nur noch Nutella und Coca Cola rauswerfen.“ Außerdem nehme Tegut viel regionale Ware mit rein. Das Ganze trage dem hybriden Einkaufsverhalten der Kundschaft Rechnung.
„Plausibler Ansatz, eigentlich nachdenkenswert, aber letztendlich für mich ein Verrat an der Bio-Branche“, soll ein Experte kommentiert haben. Rüschen hält dagegen: „Die Branche muss verstehen: Wenn sie beerdigt wird, steht auf ihrem Grabstein: Sie hat an 100 Prozent Bio festgehalten.“
Die Whole Foods-Märkte in London seien wenig erfolgreich, kommentierte Götz Rehn dieses Modell. Außerdem fänden Kunden solch ein Angebot ja schon im LEH. Für Michael Schneider ist klar: „Dann geht’s nicht mehr um Bio, sondern um mehr Profit.“ Dass der LEH heute schon mit seiner Art, Bio zu integrieren, den Fachhandel kaputt mache, zeige beispielsweise die Bio-Billig-Preispolitik bei Lidl. Seine Prognose: Tegut werde viele Naturkostläden gegen die Wand drücken.
Christoph Spahn hat Zweifel, wie sich so etwas umsetzen ließe. „Von der konventionellen Seite her könnte Naturkind so etwas am ehesten verwirklichen – aber wo ist dann die Abgrenzungsmöglichkeit gegenüber Edeka?“ Und „Können Sie sich etwa einen Biomichl vorstellen, der peu a peu konventionelle Produkte mit ins Sortiment nimmt?“
Prinzipiell kann er sich aber vorstellen, dass ein Tegut-Modell funktioniert. Insgesamt sieht er die Whitepaper-Vorschläge erst mal positiv: „Prinzipiell steckt da viel drin.“ Es rege die Diskussion an, eröffne neue Perspektiven und Handlungsräume und könne der Branche helfen, aus ihrer Dogmatik herauszukommen. „Bio ist wichtig, aber keine Religion.“
„So etwas wie Whole Foods wäre schnell umzusetzen“
Edeka, Community oder Whole Foods – welches Modell ist am ehesten realisierbar für den Fachhandel?
Das Whole Foods-Modell mit einem Sortiment, das eher in Richtung gesunde Ernährung geht und viele Bio-Produkte integriert, halte ich für das erfolgsträchtigste. Eine Händler-Genossenschaft wie Edeka ist sehr zukunftsweisend, aber schwierig umzusetzen – da müssten alle mitmachen. Das Community-Modell, das Kunden als Mitbesitzer oder Mitarbeiter beteiligt, sehe ich nur in einer Nische, nicht für den gesamten Biohandel.
Welches Modell wäre am effektivsten?
So etwas wie Whole Foods, eine Richtung, in die Tegut schon geht, wäre schnell umzusetzen. Das Sortiment lässt sich schnell umstellen. Und es wäre von beiden Seiten her realisierbar: von der Bio-Seite her und von der konventionellen.
Für das Community-Modell haben Sie drei Blaupausen vorgestellt. Warum räumen Sie dem Modell Odin Chancen ein, vermuten aber, dass Prototypen wie Foodhub oder Supercoop kaum aus ihren Nischen kommen werden?
Lebensmittelmärkte, die auf die ehrenamtliche Mitarbeit von Kunden zählen, werden Einzelerscheinungen bleiben. Odin in den Niederlanden ist anders angelegt. Kunden und Händler sind Genossen, gleichzeitig ist die Zentrale ein Großhandel. Das Modell bewährt sich seit längerem – es gibt 40 Odin-Läden in den Niederlanden.
Kommentare
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In der Schweiz beobachten wir diesen Trend bereits seit den 90-er Jahren, das ist auch der Grund, dass sich hier der Biofachhandel immer schon in der Nische bewegt hat und einen Marktanteil von weniger als 10% des Biomarktes ausmacht.
Vor drei Jahren eröffneten wir mit MEZZOGIORNO einen ersten Bioladen unter dem Franchise-Konzept. Sehr schnell entwickelten wir das Ladenkonzept in Richtung "Whole Foods", als in unmittelbarer Nachbarschaft ein Alnatura eröffnete. Mit unserem Sortimentsmix von Bio- und Regioprodukten sowie Spezialitäten, die nicht per se bio sind, haben wir eine Nische gefunden, die eine weitere Entwicklung ermöglicht.
Das Sortiment besteht aus etwa 90% Bioprodukten, daneben gibt viele Produkte von kleinen Hersteller:innen oder aus italienischen Manufakturbetrieben.
Dieses Modell bietet Flexibilität. Wichtig ist aber die Positionierung: wie erkläre ich, dass ich nicht nur Bioprodukte führe? Nun, wir sind mittlerweile Mitglied bei Slowfood und beschriften unsere Schaufenster mit "bewusst geniessen".
Katharina Nüssli, MEZZOGIORNO franchising GmbH, Schweiz