Biohandel

Wissen. Was die Bio-Branche bewegt

Nachhaltigkeits-Bilanzierung

Gemeinwohl-Ökonomie – „Und ich dachte, ich mache bereits alles richtig“

Die Bio-Branche will mehr als nur gesunde Produkte verkaufen. Ihre Unternehmen wollen nachhaltig und ethisch verantwortungsvoll agieren. Eine Gemeinwohl-Bilanz kann zeigen, ob man den eigenen Ansprüchen gerecht wird.

„Das war schon ein ziemlich hoher Aufwand!“, findet Katharina Gerull, wenn sie auf die erste Gemeinwohl-Bilanz zurückblickt, die Ökofrost vor gut zehn Jahren aufgestellt hat. Die Beauftragte für Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) beim Bio-Tiefkühl-Großhändler steht damit nicht alleine da. Egal, wer darauf angesprochen wird, alle betonen, dass die Erarbeitung einer Gemeinwohl-Bilanz hohen Einsatz kostet. Und trotzdem nehmen sie das auf sich.

Die Pressemitteilungen über erfolgreich absolvierte Gemeinwohl-Bilanzen häufen sich. Jüngstes Beispiel: die Kieler Oceanbasis GmbH, die durch die Naturkosmetik Oceanwell bekannt wurde. Über 1.000 Unternehmen und andere Organisationen in 35 Ländern, vorwiegend aus Mitteleuropa, haben inzwischen solch eine Bilanz erarbeitet und deren Ergebnisse veröffentlicht.

Bekannte Gemeinwohl-Unternehmen sind etwa der Outdoorspezialist Vaude, Saftproduzent Voelkel, Ökostromanbieter Polarstern, Trinkflaschenhersteller Soulbottles, Kräuter- und Teespezialist Sonnentor oder Bio-Großhändler wie Bodan oder Ökoring. Aber auch Landesbetriebe wie die baden-württembergische Forst BW, Bildungseinrichtungen wie die TH Nürnberg, Gemeinden wie Mals in Südtirol und auch die Spardabank München haben schon eine Gemeinwohl-Bilanz erstellt.

Die GWÖ-Vision: eine soziale und klimagerechte Marktwirtschaft

Die Idee einer GWÖ entstand vor gut zehn Jahren in der österreichischen Sektion der globalisierungskritischen NGO Attac. Die Vision: Wirtschaft soll sich nicht an Profit orientieren, sondern an Werten, die das Wohlergehen der Allgemeinheit zum Ziel haben, eine ethische Marktwirtschaft also, sozial und klimagerecht.

Einige Attac-Aktivisten taten sich zusammen und überlegten, wie sich Werte wie Menschenwürde, Solidarität, soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und demokratische Mitbestimmung messen lassen könnten, entwickelten Kategorien und eine Matrix. Christian Felber fasste das Ganze in dem Buch „Die Gemeinwohl-Ökonomie“ zusammen, das 2010 erschien und schon bald fanden sich Unternehmen, die bereit waren, ihre geschäftlichen Aktivitäten an den aufgestellten Kriterien zu messen.

Ökofrost: GWÖ-Pionier mit Optimierungspotenzial

Ökofrost gehört zu den Pionieren. Das Unternehmen befand sich damals im Umbruch, krempelte seine Unternehmenskultur um und suchte nach neuen Leitlinien. Die Gemeinwohl-Bilanz erschien als das passendste Werkzeug. „Bei den ersten zwei arbeiteten wir noch mit ehrenamtlichen Beratern zusammen. Es war sehr konstruktiv, wir hatten lange Sitzungen, wir nahmen die MitarbeiterInnen mit rein – ein wertvoller Prozess,“ berichtet Katharina Gerull. Für den dritten Bericht sammelte sie zusammen mit ihrem Mann und Geschäftsführer Florian Gerull nur noch Informationen darüber ein, was sich geändert hatte.

Inzwischen hat Ökofrost schon die vierte Bilanz veröffentlicht. Unter die Lupe genommen wurden Büromaterial und Möbel genauso wie die gesamte Unternehmensorganisation oder der Umgang mit den Geschäftspartnern. Ökofrost beauftragt inzwischen einen Steuerberater, der ebenfalls gemeinwohlorientiert arbeitet, hat den Zulieferer für Bürobedarf gewechselt, hat gemeinsam mit den Mitarbeitenden ein transparentes Gehaltsmodell entwickelt, ermöglicht ihnen größtmögliche Selbstbestimmung, bestmögliche Flexibilität der Arbeitszeiten und Teilzeit auch für Führungskräfte, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Doch alles lässt sich nicht perfekt optimieren. Unverzichtbare Treibhausgase kompensiert das Unternehmen durch den Kauf von Klimaschutzzertifikaten. Eine Zwischenlösung, deren Nachteile Ökofrost aber bewusst nicht unterschlägt. Auf der Website werden Vor- und Nachteile öffentlich diskutiert.

Biomarkt La Vida: Nicht alles lässt sich sofort umsetzen

Der Biomarkt La Vida im oberbayrischen Utting wurde 1968 von Ursula Oberndorfer als Reformkostladen gegründet. 2006 übernahm die Tochter Sylvia Haslauer, machte daraus den Biomarkt und inzwischen ist schon die nächste Generation mit im Führungsteam. Eine Kundin gab den Hinweis, dass sich in der Gegend eine Peergroup gegründet hatte, deren Mitgliedsunternehmen sich gegenseitig bei der Erstellung einer ersten Gemeinwohl-Bilanz unterstützen wollten. Ein Berater moderierte die Treffen.

Haslauers Erfahrung: „Ich glaubte, ich mache bereits alles richtig, habe aber gelernt, da ist noch Luft nach oben.“ Sie lernte, wie sie mit Hilfe des CO2-Rechners des Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN) den CO2-Fußabdruck ihres Ladens abbilden kann und informierte sich, wie die Mitarbeitenden zur Arbeit kommen, woraus sich das Ziel entwickelte, Fahrgemeinschaften zu koordinieren.

Doch nicht alles lässt sich sofort umsetzen. Gerne hätte die Ladnerin ihren Vermieter überzeugt, die Energieversorgung von Heizöl auf Photovoltaik umzustellen, hatte dafür sogar auf eigene Kosten einen Energieberater engagiert. Das hat nun erstmal nicht geklappt. „Trotzdem weiß ich, der Betrieb entwickelt sich weiter und es geht in die richtige Richtung“, so Haslauers Fazit.

Peergroups und Berater helfen durch den Prozess

Vor allem fürs erste Mal empfehlen die Beratenden, eine Peergroup zu bilden, eine kleine Gruppe von Unternehmen, die sich gemeinsam durch den Analyse-Prozess ackert. Unternehmen können aber auch alleine einen Gemeinwohl-Bericht erstellen. Via Internet stellt die Organisation Gemeinwohl-Ökonomie kostenlos ein Arbeitsbuch zur Verfügung, an dem sich entlanghangelt werden kann.

Grundlage ist eine Matrix, die Gruppen definiert, mit denen das Unternehmen in Berührung kommt und Anforderungen formuliert, die das Unternehmen gegenüber diesen Gruppen erfüllen sollte. Zu den Gruppen gehören etwa Lieferanten, Mitarbeitende, Kunden, Finanzpartner oder das gesellschaftliche Umfeld. Die Anforderungen sind Werte wie Menschenwürde, Solidarität, Mitentscheidung oder Transparenz. Für jede der 20 Kategorien sind konkrete Fragen zu beantworten und mit Daten zu belegen.

Speziell ausgebildete Berater begleiten den Prozess. Wer sich öffentlich als GWÖ-Unternehmen oder -Organisation präsentieren möchte, muss Mitglied der GWÖ werden und seinen Bericht in einer Peergroup bewerten oder von externen, unabhängigen Fachleuten auditieren lassen. Zum Audit gehört ein ausführliches Feedback an die Teilnehmer.

Interessant ist, wo Unternehmen schlecht abschneiden

Maximal 1.000 Punkte können theoretisch erreicht werden. Ökofrost bekam für seine aktuelle Bilanz 718 Punkte und gehört damit zu den Vorzeige-Unternehmen der GWÖ. In vielen Kategorien agiert der Bio-Großhändler demnach richtig gut. In der Kategorie „Eigentum und Mitentscheidung“ allerdings gingen die Tiefkühl-Experten mit 0 Punkten leer aus.

„Das anzustrebende Ideal wäre gewesen, wenn MitarbeiterInnen MiteigentümerInnen des Unternehmens wären. Das passt so nicht zu unseren Vorstellungen, da nahmen wir eine schlechte Bewertung in Kauf“, kommentiert Katharina Gerull. „Es geht uns ja auch nicht um die Höchstpunktzahl. Eher um einen guten Leitfaden.“

Gemeinwohl-Bilanz von Ökofrost

Bei der vergangenen Bilanzierung im Jahr 2022 erreichte der Bio-Tiefkühlspezialist 718 von 1.000 möglichen Punkten. Besonders gut abgeschnitten hat Ökofrost im Bereich „Mitarbeitende“ und bei den Werten „Solidarität und Gerechtigkeit“ sowie „Ökologische Nachhaltigkeit“.

Tatsächlich sollten die Bereiche, in denen ein Unternehmen nicht so viele Punkte erreicht, die interessantesten sein. Denn hier zeigen sich Verbesserungsmöglichkeiten. Oder zumindest gute Reibungspunkte, die zum Überdenken anregen.

Martin Sulzbacher vom Bioladen Querbeet in Kassel listete Produkte aus, weil ihm klar wurde, dass der dahinterstehende Hersteller nicht zu seinen Wertansprüchen passt. Gerne würde er komplett zu einer ethisch wirtschaftenden Bank wechseln, aber bei der, die er im Auge hat, seien keine Bargeldeinzahlungen möglich.

Die Bäckerei-Kette Biokaiser stellte fest, dass Änderungen im Bereich der Logistik eine besonders vielversprechende Verbesserungsmaßnahme im Sinne der Umwelt wären. Die Bioland-Gärtnerei am Hainerbach änderte ihre Arbeits- und Personalplanung, sodass alle Beschäftigten auch im Sommer angemessen Freizeit und Urlaub haben können.

Eine Gemeinwohl-Bilanz kostet Zeit und Geld

Bericht und Testat sind nicht nur für den Eigenbedarf gedacht, sie werden meist veröffentlicht – Transparenz ist ein Wert, den die Fürsprecher der GWÖ hoch ansetzen. Bislang sind es vor allem kleine und mittlere Unternehmen mit maximal 250 Mitarbeitenden, die sich offen und mit Bilanz zur GWÖ bekennen.

Eine weitere Hürde könnte das Zeitbudget darstellen. Gelegentlich dokumentieren Teilnehmende in ihren Berichten, wie viele Stunden eine Bilanz kostet. GWÖ-Pionier Bodan investierte für seine fünfte Bilanz 500 Arbeitsstunden, die sich auf sieben Personen verteilten. Bei den vier Bilanzen von Ökofrost waren es zwischen 120 und 300 Arbeitsstunden. Zur Einarbeitung ins Thema wurden möglichst viele Mitarbeitende hinzugezogen, die aktuelle hat Florian Gerull praktisch alleine gestemmt.

Der Freisinger Biolandhof Josef Braun führt in seinem Bericht von 2017 auf: elfmal 2,5 Stunden in der Peergroup, acht Stunden für die Abfassung des Berichts und Zeit für die Beibringung von Daten im Verlauf von zehn Monaten.

„Auf den Umsatz hat die Gemeinwohl-Bilanz wahrscheinlich keinen Einfluss.“

Sylvia Haslauer, Biomarkt La Vida

Wer es ernst nimmt mit der Gemeinwohl-Bilanz, muss das Testat alle zwei Jahre erneuern. Der finanzielle Aufwand orientiert sich an der Betriebsgröße des Teilnehmenden. Bernd Hümmer, Professor für nachhaltige Unternehmensführung und zertifizierter Gemeinwohl-Berater, schätzt 2.000 bis 2.500 Euro pro Teilnehmer bei einer Peergroup mit fünf Teilnehmenden. Dazu kämen die Kosten für die Mitgliedschaft. Diese orientiert sich laut Statut an der Anzahl der Mitarbeitenden. Bei 11 bis 20 Beschäftigten – es zählen die Vollzeitäquivalente – sind das beispielswese 400 Euro pro Jahr.

Eine Gemeinwohl-Bilanz kostet Zeit und Geld. Was motiviert ein Unternehmen, das auf sich zu nehmen? Als Voelkel die erste Gemeinwohl-Bilanz in Angriff nahm, argumentierte Geschäftsführer Stefan Voelkel: „Sie ermöglicht uns unter anderem konkret zu untersuchen, wo wir noch besser werden können.“ Sylvia Haslauer vom Biomarkt La Vida vermutet: „Auf den Umsatz hat die Gemeinwohl-Bilanz wahrscheinlich keinen Einfluss.“ Aber: „Damit können wir belegen, dass wir kein Greenwashing betreiben, sondern dass wir es ernst meinen mit der Realisierung unserer Werte.“

Harro Colshorn von der Bioland-Gärtnerei am Hainerbach schreibt in einem Beitrag für das Fachmagazin „Ökologie und Landbau“: „Für die Biobranche auf der Suche nach einem Profil, welches über das rein materielle ,Bio‘ hinausgeht und werteorientiertes Wirtschaften beinhaltet, könnte die Gemeinwohl-Bilanzierung eine Chance bieten, ihre Leistungen in der Öffentlichkeit transparent zu machen.“

Weitere Infos zum Thema:

  • Einen Selbsttest für Privatpersonen, mit dessen Hilfe das eigene Gemeinwohl-Verhalten hinterfragt werden kann, gibt es hier: https://selbsttest.ecogood.org/

Buchtipp:

24 wahre Geschichten vom Tun und vom Lassen – Gemeinwohl-Ökonomie in der Praxis, Karsten Hoffmann (Hrsg.), Gitta Walchner (Hrsg.), Lutz Dudek (Hrsg.), Oekom Verlag, 256 Seiten, 26 Euro, oekom.de

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