Die vergangenen Krisenjahre haben gezeigt: Kundinnen und Kunden sind flüchtige Wesen. Während sie in den Pandemie-Monaten die Bio-Läden leer kauften, wanderten sie mit Einsetzen der Inflation zu LEH und Discountern. Nun kommen sie langsam wieder in den Fachhandel zurück. Wer jetzt die Chance nutzen und wieder mehr Kundschaft für sich gewinnen will, sollte deren Bedürfnisse und Wünsche kennen.
Nachhaltigkeit ist weniger wichtig
Nicht zuletzt deshalb beschäftigen sich einige aktuelle Studien sehr intensiv mit den derzeitigen Ernährungs- und Einkaufsgewohnheiten. Und sie zeigen: Es hat sich einiges verändert.
Beispiel Nachhaltigkeit: Zwar ist das Thema inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Doch die jüngste Utopia-Studie zeigt, dass 86 Prozent der Deutschen beim Einkaufen „vor allem nach günstigen Angeboten“ suchen, und nur noch 47 Prozent bereit sind, „einen Mehraufwand auf sich zu nehmen, um nachhaltige Produkte zu kaufen“ – das sind 11 Prozent weniger als vor zwei Jahren. Auch die Studie „So is(s)t Deutschland 2024“, im Auftrag von Nestlé, durchgeführt vom Rheingold Institut, kommt zu dem Schluss, dass das Thema globale Nachhaltigkeit hinter selbstbezügliche Ideale gerückt ist. Diese seien vor allem von einer „Sehnsucht nach Unbeschwertheit“ bestimmt. Denn die permanenten Krisen der vergangenen Jahre sorgen laut Studie dafür, dass die Menschen sich stärker auf ihre Ernährungsideale fokussieren. Dabei kamen vier Trends zum Vorschein:
Der Trend der neuen Mäßigung versucht sich an veränderte Anforderungen anzupassen wie etwa kein oder weniger Fleisch zu essen. Dass dieser Trend seit Jahren ungebrochen ist, bestätigen auch die jüngsten Zahlen des Bundesinformationszentrums Landwirtschaft (BZL):
Mit 51,6 Kilogramm pro Kopf sank der Verzehr von Fleisch im Vergleich zum Vorjahr erneut um rund 0,4 Kilogramm. Im Jahr 2018 hatte der Fleischverzehr noch 61 Kilogramm betragen. Weitere Themen für die Zielgruppe der neuen Mäßigung sind außerdem möglichst wenig Verpackung zu kaufen und kein Essen zu verschwenden – Stichwort Food-Rettung.
Die neuen Pragmatiker hingegen wollen Zeit und Geld sparen. Sie nutzen besonders Convenience als Unterstützung und schätzen stylische, neue Produkte, die beinahe aussehen wie selbst gekocht. In höheren Preisen sieht diese Gruppe auch eine Legitimation, nicht so sehr auf Nachhaltigkeit zu achten und eher im Discounter einkaufen zu gehen.
Generation Z isst gerne mal im Bett
Convenience und vor allem Snacks spielen bei der Generation Z eine große Rolle. Laut Studie essen die Jungen immer seltener zu festen Zeiten und an festen Orten, sondern eher nebenbei und auch gerne mal im Bett. Dabei ist bei ihnen eine Diskrepanz zwischen Idealen wie etwa nachhaltiger Konsum und Realität zu beobachten: „Reden und Handeln sind oft zwei verschiedene Dinge“, so Dirk Grünwald von Nestlé bei der Vorstellung der Studie.
Die vierte Trend-Gruppe sind die Retros, die neue Erkenntnisse ignorieren oder für zu aufwendig halten. Sie verharren mit ihrem Ernährungsstil in der guten alten „heilen Genuss-Welt“ der 1950er-Jahre. Dieser Retro-Trend wird laut Stephan Grünewald vom Rheingold Institut auch „von politisch konservativen Kräften aufgegriffen und instrumentalisiert“ und ist in den östlichen Bundesländern und bei Männern am stärksten verbreitet.
Männer als Zielgruppe in den Blick nehmen
Der aktuelle Grocery Report des Marktforschungsunternehmens Yougov sieht in Männern – vor allem Vätern – eine wichtiger werdende Zielgruppe. Denn Väter übernehmen in Bezug auf den Lebensmitteleinkauf mehr und mehr die Rolle des Entscheiders. 2020 sagte jeder dritte Vater in Deutschland (34 Prozent), alleine für den Einkauf von Lebensmitteln und Dingen des täglichen Bedarfs verantwortlich zu sein. Ende 2023 sagten dies 44 Prozent der Väter. Unter Müttern blieben die Werte so gut wie unverändert (2020: 55 Prozent gegenüber 54 Prozent Ende 2023).
Die Mehrheit der Väter (61 Prozent) gibt an, dass sie nur das einkaufen, was sie brauchen, wenn sie in einen Supermarkt gehen, 75 Prozent von ihnen besitzen gerne hochwertige Produkte und 47 Prozent sagen, sie kaufen nur Produkte von bekannten Marken.
Das Einkaufsverhalten von Müttern ist impulsiver. 64 Prozent unter ihnen sagen, dass sie jedes Mal im Supermarkt Dinge kaufen, die sie eigentlich nicht kaufen wollten (nur 59 Prozent der Väter tun das). Mütter sagen außerdem häufiger, dass sie sich manchmal Dinge gönnen, die sie eigentlich nicht brauchen: 69 Prozent gegenüber 63 Prozent der Väter.
Mütter kaufen den Großteil ihrer Lebensmittel im Laden (80 Prozent gegenüber 62 Prozent der Väter), Väter kaufen hingegen häufiger online (18 Prozent gegenüber acht Prozent der Mütter).
Mütter erledigen die meisten ihrer Lebensmitteleinkäufe unter der Woche, also von Montag bis Freitag (72 Prozent), während dies nur 57 Prozent der Väter tun. Am Wochenende erledigen die Väter wiederum häufiger den Großteil des Lebensmitteleinkaufs (33 Prozent), von den Müttern sind es nur 21 Prozent.
Angebote für weniger Nachhaltigkeitsaffine
Welche Schlüsse lassen sich aus diesen Erhebungen für Handel und Hersteller ziehen? Viele beobachten und kennen ihre Kundschaft bereits sehr genau, doch manches verändert sich so unauffällig, dass es zunächst nicht wahrgenommen wird.
Laut Stephan Grünewald vom Rheingold Institut wünschen sich die Verbraucher aller Trend-Gruppen der Nestlé-Studie, die Verantwortung für große Themen wie die globale Nachhaltigkeit an Hersteller und Handel abgeben zu können. Außerdem möchten sie klare Regeln – wobei nach Auffassung von Dirk Grünwald von Nestlé auch Siegel als Hinweise für die Kundschaft helfen: „Siegel sind wertgeschätzter, als sie es noch vor ein paar Jahren waren.“
Utopia zieht aus seiner Studie den Schluss, dass Kommunikationschancen offensiv genutzt werden sollten, denn das Problembewusstsein und ein Informationsbedürfnis für Nachhaltigkeitsthemen sei bei fast allen Konsumenten vorhanden. Sie wünschten sich von Unternehmen mehr Nachhaltigkeitskommunikation. Außerdem sollten diese angesichts von Inflation und gestiegener Preissensibilität Angebote für weniger nachhaltigkeitsaffine, aber nicht ablehnende Konsumenten machen, um zu verhindern, dass sie sich weiter abwenden.
„Bequemlichkeit spielt eine große Rolle“
Frau Dr. Stüber, was sind laut Ihrer aktuellen Studie „Bio-Revolution im Lebensmittelhandel“ die Gründe für Kundinnen und Kunden, Bio zu kaufen?
Geschmack und Gesundheit sind die wichtigsten Treiber für den Kauf, erst dann kommt Nachhaltigkeit. Bei den „Fokus-Bio-Käuferinnen und -käufern“, die möglichst bis hin zu ausschließlich Bio-Produkte erwerben, verliert der Geschmack zugunsten von Nachhaltigkeit zwar ein bisschen, bleibt jedoch gleichbedeutend mit Gesundheit auf Platz eins. Dies in der Kommunikation zu nutzen, ist ein wichtiger Hebel, um mehr Menschen für Bio zu gewinnen.
Und wo kaufen die Menschen bevorzugt Bio?
Wie bei Lebensmitteln im Allgemeinen wird im Einkaufsstätten-Portfolio gekauft. Der eigene Bewegungsraum, also die Bereiche, in denen man durch Wege zur Arbeit, Schule, Kita, Hobbys und sonstigen Verpflichtungen sowieso unterwegs ist, und damit einhergehend das Thema Bequemlichkeit spielen bei der Wahl der Einkaufsstätte eine wichtige Rolle. Daneben ist die Einstellung zu Bio wichtig: Bezogen auf den Lebensmittelhandel sind im Supermarkt die meisten Menschen mit Fokus auf Bio unterwegs, während im Discounter die meist selektive Käuferschaft anzutreffen ist. Spannend ist hierbei, dass es zwischen der Kundschaft in den Geschäften und den Onlineshops der Händler deutliche Unterschiede gibt: Der Anteil der Fokus-Käuferschaft ist in den Onlineshops bei den betrachteten Anbietern deutlich höher als in den Geschäften. So ist in den Onlineshops von Rewe und DM der Anteil der Fokus-Käuferschaft genauso hoch wie im Bio-Fachhandel.
Wo sehen Sie die größten Wachstums-Chancen für Bio im Handel – wo tut sich derzeit am meisten?
Die erhöhte Sichtbarkeit von Bio im Lebensmitteleinzelhandel ist der große Hebel für mehr Wachstum durch das Erreichen neuer Zielgruppen. Über die Hälfte der Befragten gibt an, mehr Bio zu kaufen, seitdem es mehr Produkte im LEH gibt. So halten die Supermärkte den höchsten Anteil am Bio-Markt und die Discounter verzeichnen das größte Wachstum.
Was bedeutet das für den Bio-Fachhandel?
Man könnte meinen, dass der Bio-Fachhandel in Zukunft keine Rolle mehr spielt. Das ist jedoch ganz und gar nicht so. Auch wenn die Ausgangssituation für den LEH im wachsenden Bio-Markt besser ist, können alle Formate profitieren. Für den Naturkosthandel geht es darum, Spezialist für ein breites und tiefes Bio-Sortiment mit Nachhaltigkeitsfokus zu werden. Für Supermärkte gilt es hingegen, näher ans heutige Bio-Angebot des Fachhandels zu rücken, um die „Fokus-Bio-Käuferschaft“ besser zu bedienen. Für die Discounter heißt es, vor allem die Erwartungen der Menschen beim Einstieg zu erfüllen und heranzuführen.
Welche Bio-Sortimente sind die stärksten Treiber?
Aktuell liegen die Frischesortimente bei höheren Wachstumsraten als das Trockensortiment. Im Rahmen der Frischesortimente weisen Fleisch und Fleischerzeugnisse sowie Fleischersatz die höchsten Wachstumsraten auf. Auf kleinem Niveau realisiert Milchersatz starkes Wachstum.
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