Chemische Pestizide schädigen die menschliche Gesundheit und sind Ursache für den Rückgang der biologischen Vielfalt auf landwirtschaftlichen Flächen. Sie kontaminieren die Luft, das Wasser und die Umwelt im weiteren Sinne. Diese Aussagen stehen nicht im grünen Parteiprogramm, sondern in einer Pressemitteilung der EU-Kommission. Sie begründete damit am 22. Juni ihren Vorschlag für eine neue Pestizidverordnung. Diese soll helfen, das Ziel zu erreichen, das die Kommission in ihrer Strategie „Vom Hof auf den Tisch“ (engl. Farm to Fork oder F2F) gesetzt hat: 50 Prozent weniger Pestizideinsatz bis 2030.
Die Verordnung würde die Mitgliedstaaten dazu verpflichten, eigene Reduktionsziele festzulegen. Als Basiswert für die angestrebte Verringerung soll der Durchschnitt der in den Jahren 2015 bis 2017 eingesetzten Pestizide dienen. Der sogenannte integrierte Pflanzenschutz soll zum Standard werden. Nur wenn alle alternativen Maßnahmen zur Schädlingsbekämpfung ausgeschöpft sind, wäre demnach die Anwendung synthetischer Pestizide zulässig. In „empfindlichen Gebieten“ wie städtischen Grünanlagen sowie in Naturschutzgebieten sollen alle Pestizide verboten werden.
Ursprünglich wollte die Kommission ihren Entwurf bereits Anfang März vorstellen. Doch dann kam der Krieg und mit ihm die Stimmen, die eine Ökologisierung der Landwirtschaft in Frage stellten: „In einem zynischen Schachzug missbrauchen die Lobbyverbände der Agrarindustrie und konservative Politiker den schrecklichen Krieg in der Ukraine, um die Farm to Fork-Ziele der EU vom Tisch zu bekommen“, schrieben damals die Lobbywächter von Corporate Europe Observatory (CEO).
EU ist sich uneinig
Zwölf Mitgliedstaaten, angeführt von Polen und Frankreich, unterstützten die Lobby. Über 50 Organisationen aus der ganzen EU, darunter auch der Bio-Dachverband IFOAM Europe appellierten an die Kommission, nicht nachzugeben. Schließlich kam sie mit einigen Formulierungen den protestierenden Mitgliedern entgegen, hielt aber an dem 50-Prozent-Ziel fest.
Die Umweltverbände werteten das als Erfolg, kritisierten aber viele Details der Verordnung. Was die Kommission vorgeschlagen habe, sei „wirklich das absolute Minimum“, bilanzierte CEO-Geschäftsführerin Nina Holland. „Jetzt liegt es an den EU-Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament, ambitioniertere Regeln festzulegen und sich nicht dem Druck der Industrie zu beugen.“
Insgesamt zeigt der Vorgang eines: Es ist im Mainstream angekommen, dass synthetische Pestizide eine Gefahr sind und der Ausstieg angesagt ist. Das hat die Pestizidlobby alarmiert. Zu verdanken ist dies – ähnlich wie beim Thema Klimawandel – dem Zusammenwirken von Wissenschaft und Zivilgesellschaft. Es waren die Biodiversitätsforscher, die das Artensterben und die Rolle der Pestizide dabei ins Licht gerückt haben. Bereits 2016 warnte der Weltbiodiversitätsrat IPBES vor dem dramatischen Rückgang an Bestäubern und bezeichnete die intensive Landwirtschaft und ihren Pestizideinsatz als eine der Hauptursachen.
Ein Jahr später zeigte eine Studie, dass in Deutschland die Menge der Fluginsekten innerhalb von 30 Jahren auf ein Viertel abgenommen hat. Das „Insektensterben“ wurde zum geflügelten Wort und führte zu mehreren erfolgreichen Volksbegehren sowie zur Europäischen Bürgerinitiative „Rettet Bienen und Bauern“, die im letzten Jahr von 1,2 Millionen Menschen unterzeichnet wurde. Sie forderten, bis 2035 aus der Nutzung von Pestiziden auszusteigen.
Pestizide in Zahlen
Deutschlands Landwirte haben 2020 rund 27.400 Tonnen Pestizidwirkstoffe eingekauft, darunter fast 3.800 Tonnen Glyphosat. Trotz aller Minimierungsversprechen hat sich die Menge seit 30 Jahren kaum verändert.
Ende 2020 waren 283 Wirkstoffe zugelassen, die die Hersteller zu 980 verschiedenen Pestiziden kombinierten. Diese Zahlen erhebt jährlich das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit. Weltweit werden rund vier Millionen Tonnen Pestizide ausgebracht.
Verfehlte Politik
Parallel dazu rückte das Totalherbizid Glyphosat in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Das hatte mehrere Gründe: Es ist das weltweit am häufigsten eingesetzte Pestizid und eng mit dem Anbau gentechnisch veränderter (und dadurch glyphosatresistenter) Pflanzen verbunden.
Die Krebsforschungsagentur IARC der Weltgesundheitsorganisation hat es 2015 als wahrscheinlich krebserregend eingestuft. Der Streit um die Neuzulassung von Glyphosat in den Jahren 2015 bis 2017 zeigte beispielhaft die Schwächen der EU-Pestizidregelungen auf sowie die Unfähigkeit der Behörden, eigene Fehleinschätzungen zu korrigieren. Die erneut anstehende Zulassung von Glyphosat läuft noch nach den 2019 überarbeiteten Regeln.
Ohne Druck läuft nichts
Schon jetzt ist absehbar, dass die europäische Lebensmittelbehörde EFSA sich wieder auf die Seite der Konzerne schlagen wird. Mitte 2023 will sie nach jetzigem Fahrplan ihre abschließende Stellungnahme abgeben. Auf deren Grundlage entscheiden dann die EU-Mitgliedstaaten, ob sie Glyphosat aus dem Verkehr ziehen oder noch einmal zulassen. Diese Diskussion und die Beratungen der neuen EU-Pestizidverordnung machen Pestizide in diesem und im nächsten Jahr zu einem der wichtigsten Umweltthemen.
Dadurch könnte auch in die bisher stillstehende Pestizidpolitik auf Bundesebene Bewegung kommen. „Wir wollen den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf das notwendige Maß beschränken“, steht im Koalitionsvertrag, doch ein konkretes Reduktionsziel gibt es nicht. Ebenso fehlt eine Pestizidabgabe als marktwirtschaftliches Steuerungsinstrument, wie es das etwa in Dänemark gibt. Der schon 2013 beschlossene Nationale Aktionsplan Pflanzenschutz dümpelt weiter vor sich hin.
Ob es gelingt, Pestizide wirksam zu reduzieren, wird wesentlich davon abhängen, wieviel öffentlichen Druck Bio- und Umwelt-Verbände aufbauen können. Dabei kommt es auf das Engagement jedes einzelnen Bio-Betriebs an. Schon aus Eigennutz, denn Pestizide sind eine Gefahr für die ganze Branche. Sie verunreinigen durch Abdrift und Verwehungen Bio-Felder und deren Ernten. Und sie bleiben auch in Bio-Böden. Schweizer Wissenschaftler fanden in Böden, die seit mehr als 20 Jahren biologisch bewirtschaftet wurden, noch bis zu 16 verschiedene Pestizide.
Teuer für Bio-Betriebe
Der konventionelle Pestizideinsatz zwingt Bio-Betriebe auf allen Ebenen dazu, ihre Produkte ständig und für viel Geld auf Pestizidrückstände untersuchen zu lassen. Werden die Labore fündig, ist es der Bio-Betrieb, der nachweisen muss, dass er ordentlich gearbeitet hat. Selbst dann kann er seine Produkte womöglich nicht mehr als Bio vermarkten.
Die neue EU-Ökoverordnung hat die Anforderungen an Bio-Betriebe noch verschärft. Sie müssen nun „systematisch kritische Punkte“ ermitteln, bei denen Verunreinigungen drohen. In einem zweiten Schritt müssen sie dann „Maßnahmen, die verhältnismäßig und angemessen sind“ ergreifen, um dieses Kontaminationsrisiko zu vermeiden.
Das Forschungsinstitut für biologischen Landbau spricht von „Bio-kritischen Kontrollpunkten“ (BioKKP). Ein solcher Bio-KKP beim Ackerbauern kann etwa der Mähdrescher eines Lohnunternehmens sein, der auch konventionelle Äcker mäht. Beim Händler sind Anlieferungen von Unternehmen, die auch konventionelle Erzeugnisse verkaufen, ein ständiges Risiko. „Die wesentliche Neuerung ist die systematische Herangehensweise“, erläutert Alexander Beck vom Büro für Lebensmittelkunde und Qualität. Dies sei eine Chance für ein verbessertes Risikomanagement.
Doch es bringt einen dauerhaften zusätzlichen Dokumentationsaufwand mit sich. Vermeiden lässt sich diese Arbeit nicht, denn Konzept und Maßnahmen werden bei der jährlichen Öko-Kontrolle mit überprüft. Stößt ein Bio-Betrieb bei seinen Kontrollen auf etwas Verdächtiges, muss er das Erzeugnis isolieren und sich mit dem Lieferanten in Verbindung setzen. Wenn dieser den Verdacht nicht glaubhaft ausräumen kann, ist die Kontrollstelle zu informieren.
Damit lädt die neue Öko-Verordnung dem Bio-Unternehmen mehr Verantwortung auf als bisher. „Unbedingt das Vorgehen dokumentieren“, rät Alexander Beck. Kontrollstellen und -behörden müssen sich im Verdachtsfall mehr beeilen. Die amtliche Untersuchung „ist unter Berücksichtigung der Haltbarkeit des Erzeugnisses und der Komplexität des Falls so rasch wie möglich innerhalb eines angemessenen Zeitraums abzuschließen“, heißt es in Artikel 29.
Abstand schützt nicht
Unverändert schwierig bleibt es festzustellen, ob ein Rückstandsfund auf eine ubiquitäre Umweltbelastung oder eine Abdrift von konventionellen Äckern zurückgeht. Lange galt Abdrift als etwas, was nur den direkt angrenzenden Acker betrifft. Bio-Landwirte könnten sich durch Abstand oder Heckenpflanzungen dagegen schützen, lautete ein Argument der Pestizidanwender.
Dass dieses ausgedient hat, ist auch das Verdienst einiger engagierter Bio-Unternehmen, die sich 2017 zum Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft zusammenschlossen. Sie finanzierten zwei Studien, die nachwiesen, dass sich zahlreiche Pestizide vom Acker machen. Die Wirkstoffe, darunter Glyphosat, ließen sich weitab von jeder Landwirtschaft in Baumrinden und in der Atemluft nachweisen. Mit „Ackergifte? Nein Danke!“ initiierte das Bündnis eine unternehmensübergreifende Kampagne im Fachhandel.
Pestizidfreie Zone
Mehrere Filialisten und einige inhabergeführte Fachgeschäfte nutzen die Kampagne als Möglichkeit, das Thema aufzugreifen. Sie zeigen damit, dass sie sich für Artenvielfalt und eine giftfreie Umwelt engagieren. Gleichzeitig stellen sie einen umweltrelevanten Aspekt ihres Sortiments heraus. 100 Prozent Bio heißt eben auch: Zu hundert Prozent ohne Pestizide hergestellt und in den meisten Fällen frei von Pestizidrückständen. Das belegen die vielen Analysen von Erzeugern und Herstellern sowie das unternehmensübergreifende Pestizidmonitoring des Bundesverbandes Naturkost Naturwaren.
Dabei werden regelmäßig auf Großhandelsebene risikoorientiert Proben gezogen und analysiert. Auch die Daten der Überwachungsbehörden zeigen, dass Bio-Lebensmittel sauber sind. Das Öko-Monitoring aus Baden-Württemberg etwa meldete für 2021 371 untersuchte Bio-Lebensmittel. Drei Viertel davon wiesen keine Rückstände auf, das vierte Viertel enthielt Spuren von Pestiziden aus Abdrift oder allgemeiner Umweltbelastung. Lediglich sechs Proben wurden beanstandet, weil die Belastung über dem Orientierungswert von 0,01 mg/kg lag.
Die Proben von konventionellem Obst und Gemüse enthielten im Schnitt zweihundertmal mehr Pestizidrückstände. Im Gegensatz zu einem konventionellen Supermarkt kann ein Bio-Fachhändler guten Gewissens sagen: „Mein Laden ist eine pestizidfreie Zone.“
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