Einmal ausgebrachte Pestizide verbleiben nicht, wie bisher angenommen, zum größten Teil auf den jeweils behandelten Anbauflächen. Das zeigt eine aktuelle Studie der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau (RPTU) und der Universität für Bodenkultur in Wien (BOKU), die im Vinschgau im italienischen Südtirol durchgeführt wurde. Dort wurden im Rahmen der Untersuchung im gesamten Tal bis die Höhenlagen Pestizidmischungen nachgewiesen, heißt es in der Medienmitteilung zur Studie.
Laut der Studien-Verfasser gingen selbst Fachleute lange davon aus, dass die synthetischen Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel im Wesentlichen in der behandelten Apfelanlage verbleiben und maximal noch im nahen Umfeld zu finden sind. Jüngere Studien aus dem Jahr 2022 jedoch zeigten, dass sich Pestizide deutlich über die entsprechenden landwirtschaftlich genutzten Flächen ausbreiten, in entfernter Umgebungsluft nachweisbar sind und beispielsweise Insekten in Naturschutzgebieten belasten.
Anlass für die Studie im Vinschgau war ein Rückgang von Schmetterlingen auf Bergwiesen und die Vermutung, dass der Einsatz von Pestiziden im Vinschgauer Tal damit zusammenhängen könnte. Studien dazu, wie weit sich Pestizide tatsächlich verbreiten und wie lange sie im Boden verbleiben gab es bis dahin kaum.
Messung der Pestizidausbreitung erstmals auf großer Skala
„Aus ökotoxikologischer Sicht ist das Vinschgauer Tal besonders interessant, da man im Tal hochintensiven Anbau mit vielen Pestiziden hat und auf den Bergen empfindliche alpine Ökosysteme, die teilweise auch streng geschützt sind“, erläutert Carsten Brühl, Professor an der RPTU. Dank moderner Analytik kann man heute bis zu einhundert Pestizide gleichzeitig messen – auch in geringen Konzentrationen. Gemeinsam mit seinem Team sowie Fachkollegen der BOKU und aus Südtirol hat er die Pestizid-Belastung auf Landschaftsebene untersucht – entlang des ganzen Tals bis in Höhenlagen. An insgesamt 53 Standorten wurden Bodenproben gezogen und Pflanzenmaterial gesammelt.
Insgesamt 27 verschiedene Pestizide fanden die Forscher in der Umwelt, betonen aber zugleich, dass sie ihre Messungen Anfang Mai durchgeführt haben und dass im Verlauf der Wachstumssaison bis zur Ernte weitere Mittel zum Einsatz kommen. Damit seien komplexere Mischungen mit mehreren Substanzen und immer wieder auftretende höhere Konzentrationen wahrscheinlich. In fast der Hälfte aller Boden- und Pflanzenproben konnten die Forscher das Insektizid Methoxyfenozid messen, dass in Deutschland seit 2016 aufgrund der Umweltschädlichkeit nicht mehr zugelassen ist.
„Wir fanden die Mittel in entlegenen Bergtälern, auf den Gipfeln und in Nationalparks. Dort haben sie nichts verloren“, unterstreicht Brühl. Nur an einer einzigen Stelle haben die Forscher in den Pflanzen keine Wirkstoffe gefunden, heißt es in der Pressemitteilung. An jener Stelle gäbe es dafür jedoch sehr viele Schmetterlinge. Laut Studien-Mitverfasser Zaller zeigen die Ergebnisse der Studie auch, dass die Pestizid-Ausbringungstechnik im konventionellen Vinschgauer Apfelanbau „stark verbesserungswürdig“ sei, da sich die Mittel sonst nicht so weit verbreiten könnten.
Mögliche Folgen der Pestizidmischungen und Alternativen zu deren Einsatz
Wie sich chronische Belastungen durch Pestizide mit Mischungen in niedrigen Konzentrationen auf die Umwelt auswirken, ist bisher kaum bekannt. Auch weiß man bislang wenig über ein mögliches
Zusammenwirken verschiedener Substanzen. Denn bei sogenannten Umweltrisikobewertungen werden die Stoffe einzeln und nicht in Mischungen betrachtet. Die gefundenen Konzentrationen seien zwar nicht hoch gewesen, „aber es ist erwiesen, dass Pestizide das Bodenleben schon bei sehr geringen Konzentrationen beeinträchtigen“, erklärt Bodenexperte Johann Zaller von der BOKU. Weiterhin sei nicht ausgeschlossen, dass sich die Wirkungen der Pestizide in den jeweiligen Kombinationen womöglich verstärken.
Mögliche Maßnahmen zur Förderung der funktionalen Biodiversität als Alternative zum Pestizideinsatz:
- Reduktion oder Verbot des Einsatzes von Pestiziden (zumindest der Stoffe, die in entlegenen Gebieten nachgewiesenen wurden)
- Forcieren von Bewirtschaftungspraktiken, die die funktionale Biodiversität in der Apfelanlage fördern (beispielsweise naturnahe und blütenreiche Grasländer verteilt in der Landschaft, um den Gegenspielern von Apfelschädlingen
einen Lebensraum zu bieten - Einführung eines systematischen Pestizid-Monitorings mit jährlich mehrfachen Messungen an verschiedenen Stellen
- Akzeptant nicht perfekt aussehender Äpfel im Handel fördern
„Wir brauchen Regionen, in denen Pflanzen und Tiere nicht mit diesen bioaktiven Substanzen kontaminiert sind“, schließt Carsten Brühl aus den Studienergebnissen. Eine Pestizidreduktion und die gleichzeitige Ausweitung des biologischen Anbaus sei zur Reduktion der Landschaftsbelastung dringend notwendig. „Unsere Ergebnisse zeigen, dass es drängt, jetzt zu handeln, wir haben leider keine Zeit mehr“, unterstreicht Brühl. (dan)
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