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Lebensmittelverschwendung: Was Bio-Märkte noch verbessern können

Im Bio-Handel landen wenig Lebensmittel in der Tonne – es geht aber noch besser. Welche Strategien schon jetzt für Erfolge sorgen, warum Daten ein großes Problem sind und an welchen Stellschrauben noch gedreht werden kann.

Wenn Jens Boock und seine Kolleg:innen um 6 Uhr in die Schicht starten, fällt der Blick erstmal aufs Kleingedruckte. MHD-Kontrolle – jeden Morgen. „Wir laufen mit einer Liste durch und checken, was noch wie lange haltbar ist und sortieren dann schon mal vor.“ Boock ist in der Berliner Bio Company-Filiale Yorckstraße als Tagesvertretung im Einsatz. Der Mann für alle Fälle, das Bindeglied zwischen den Abteilungen. Der 35-Jährige hat also den Überblick. Auch beim Thema Lebensmittelverschwendung.

„Wir schmeißen extrem wenig weg, nicht mal eine ganze Bio-Tonne pro Woche. Das liegt unter anderem daran, dass wir rechtzeitig die Preise reduzieren.“ Zwei bis drei Tage vor Ablauf werden Produkte wie Käse 20 Prozent günstiger angeboten, ein Tag vorher geht der Preis um die Hälfte runter. Im Obst- und Gemüsebereich gibt es Reste-Tüten mit roten 50%-Aufklebern. „Die Kundinnen und Kunden nehmen das sehr gut an, fragen sogar aktiv nach. Auch beim Bäcker, nach Brot vom Vortag. Man kann gute Schnäppchen machen. Das lohnt sich“, erzählt Boock.

Kluges Bestellen und Spenden als Schlüssel

Alles, was trotzdem nicht weg geht, wird aussortiert, abgeschrieben und an Mitarbeitende oder das ehrenamtliche „Foodsharing“-Netzwerk gespendet. Die Foodsharer kommen bis zu zweimal täglich, holen fertig gepackte Kisten mit Obst, Gemüse, Molkereiprodukten und Backwaren ab und verteilen die Lebensmittel weiter – zum Beispiel an Obdachlosen-Einrichtungen oder Privatpersonen. Deutschlandweit sind rund 100.000 Ehrenamtliche aktiv. Fast alle Bio-Supermärkte kooperieren mit dem Netzwerk.

Der Grundstein für möglichst wenige Abfälle wird bei Bio Company schon vor der 6-Uhr-Runde gelegt, beim Bestellen. „Da feilen wir täglich dran“, so Boock. „Das Lager wird ausgeräumt und wieder eingestapelt, um zu gucken, was noch da ist. Und wenn dann im Kühlhaus noch ‘ne Ladung Gurken liegt, die bis zum Wochenende reicht, dann machen wir da auch piano mit dem Nachbestellen.“

Wenn ein Markt neu aufmacht, müssen sich die Bestellprozesse aber erst einspielen und auf die neue Klientel abgestimmt werden. „Da kann es passieren, dass der Weißkohl liegen bleibt, obwohl er anderswo super läuft“, berichtet Sascha Rieth, Nachhaltigkeitsbeauftragter von Bio Company.

Insgesamt konnte die Kette laut Rieth die Bio-Abfälle zwischen 2012 und 2016 halbieren. Aktuell versucht er, ein Add-On für das Warenwirtschaftssystem zu etablieren. „Damit können die Filialen noch besser dokumentieren, welche Artikel da sind und wie lange sie noch halten. Digital und übersichtlich“, sagt Rieth.

Im LEH landen 500.000 Tonnen Lebensmittel im Müll

Die Datenlage ist ein generelles Problem beim Thema Lebensmittelverschwendung. Es gibt kaum belastbares Zahlenmaterial. Das Thünen-Institut versucht händeringend aussagekräftige Statistiken zu erstellen. Immerhin: an der neuesten Studie der Bundesbehörde haben sich dreizehn Unternehmen aus dem Lebensmitteleinzelhandel (LEH) beteiligt, die die Hälfte des Gesamtumsatzes abdecken. Auf dieser Basis wurde hochgerechnet. Ergebnis: 2019 wurden im LEH 500.000 Tonnen Lebensmittel weggeworfen (Supermärkte und Discounter: 290.000 Tonnen). Zum Vergleich: in den Privathaushalten landen pro Jahr insgesamt rund sechs Millionen Tonnen Lebensmittel im Abfall.

Der LEH entsorgt vor allem Brot (fast die Hälfte aller Abfälle), gefolgt von Obst und Gemüse (rund 25 Prozent). Die Zahlen wären laut der Studie noch höher, wenn nicht 30 Prozent der aussortierten Lebensmittel gespendet würden. Gerade hier gibt es aber kaum Daten. Und: Es fehlt die Vergleichsbasis, um einen Trend abzulesen. „Deshalb fordern wir eine verpflichtende Daten-Transparenz. Sonst weiß man ja nicht, welche Schritte funktionieren und welche nicht“, erklärt Joyce-Ann Syhre, Expertin für Lebensmittelverschwendung bei der Deutschen Umwelthilfe.

In Großbritannien laufe das schon ganz gut, so Syhre. Die Supermärkte auf der Insel würden mit dem Thema sogar in den Wettbewerb untereinander gehen. Wegwerf-Verbote für Supermärkte wie in Tschechien und Frankreich könnten ebenfalls etwas bringen, wenn sie kontrolliert werden. Druck kommt von der EU: ab 2023 müssen die Mitgliedsländer Lebensmittelabfälle monitoren. Eine neue Verordnung soll das Spenden im LEH künftig erleichtern.

„Perfekte Ware“ und Rabattaktionen sind ein Problem

Die Bio-Branche ist laut Syhre auf einem guten Weg. „Die Kommunikation mit den Landwirt:innen ist oft auf Augenhöhe. Die können sich besser darauf verlassen, dass die Ware wirklich genommen wird. Außerdem wird das Thema Lebensmittelspenden im Bio-Bereich konsequent umgesetzt.“

Die Expertin sieht allerdings noch Verbesserungspotential: „Die Tendenz, lieber perfekt aussehendes Obst und Gemüse anzubieten, nimmt auch im Bio-Handel zu. Das ist ein Problem. Weil dann auf dem Acker schon Lebensmittel aussortiert werden.“ Syhre wünscht sich zudem weniger Werbung und Rabattaktionen, um unüberlegte Hamster-Einkäufe zu vermeiden, bei denen am Ende zu Hause viel im Müll landet. „Wenn, dann sollten Lagerbestände oder Ladenhüter über Rabattaktionen angeboten werden“, sagt sie.

An der Schnittstelle Kunde-Markt gebe es laut Syhre noch viel Potential. Da habe die Branche einen wichtigen Bildungsauftrag, damit zu Hause weniger Essen im Müll lande. Generell rät sie, kurz vor Ladenschluss „Mut zu leeren Regalen“ zu haben. Und das gut zu kommunizieren, damit die Kund:innen den Hintergrund verstehen. „Um Spät-Einkäufer nicht zu verprellen, kann man mit Vorbestellungen zum Beispiel über eine App arbeiten. Das ist ja auch eine gute Chance, die Kunden noch stärker an den Markt zu binden.“

Bio-Märkte kooperieren mit Too Good To Go

Denns und Alnatura setzen im „Last-Minute-Geschäft“ auf das Start-up Too Good To Go (TGTG). Über die App werden Überraschungstüten mit übrig gebliebenen Obst und Gemüse oder Backwaren zu günstigen Preisen angeboten. Laut TGTG wird das Angebot gut genutzt: mehr als 95 Prozent der angebotenen Produkte gehen raus – ein überdurchschnittlich hoher Wert. Für jede verkaufte Überraschungstüte erhält das Start-up rund einen Euro. Dazu kommt eine Jahrespauschale von 39 Euro.

Die Bio-Ketten sehen Too Good To Go als sinnvolle Ergänzung zu den ohnehin praktizierten Schritten, wie kluge Bestellungen, Preis-Reduzierungen und Spenden. Durch die App kommen außerdem neue Kund:innen in die Märkte und es lässt sich noch Geld verdienen. Eine lukrative Mischung.

Bio Company kooperiert ebenfalls mit Too Good To Go, allerdings über ein spezielles Label. Das „Oft länger gut“-Zeichen informiert die Kund:innen darüber, dass das Produkt nach Ablauf des MHDs oft noch problemlos gegessen werden kann. „Der Hinweis soll künftig auf allen Bio Company-Eigenprodukten stehen. Im Optimalfall auch mit QR-Code, um noch mehr Infos zu liefern“, erklärt Nachhaltigkeits-Chef Sascha Rieth, der sich ansonsten strengere politische Leitplanken wünscht, um auch die konventionellen Anbieter bei dem Thema stärker einzubinden.

„Unverpackt ist die Zukunft“

Bis dahin müssen die Märkte eigene Wege gehen. Im Trend liegen Unverpackt-Strecken, die ein gezieltes Einkaufen passend zur Haushaltsgröße möglich machen. 16 Bio Company-Filialen haben schon ein Unverpackt-Angebot. Das größte steht in der Berliner Yorckstraße. Zuständig dafür ist der Mann für alle Fälle – Jens Boock. „Wir haben Pasta, Kaffee, Hülsenfrüchte und natürlich Müsli. Schnelldreher sind die Haferflocken, da geht täglich richtig was raus“, sagt er.

Neben der Trockenware gibt es auch eine Milch-Zapfanlage. Mit einem Absatz von zehn bis 20 Litern pro Tag ebenfalls ein Renner. „Teilweise kommen die Leute extra wegen der Unverpackt-Strecke zu uns in den Markt. Das ist die Zukunft“, prophezeit Boock. Und: eine weitere Chance, noch weniger Lebensmittel zu verschwenden.

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