Aus dem Artikel
- Laut einer Umfrage von Deloitte verbringen 35 Prozent der Befragten nahezu unabhängig von ihren Einkünften sehr viel Zeit mit der Planung ihrer Lebensmitteleinkäufe.
- Passend dazu greifen 69 Prozent aktuell selten oder gar nicht auf Lieferdienste zurück – die Zubereitung von Mahlzeiten in den eigenen vier Wänden rückt damit wieder verstärkt in den Fokus.
- Deloitte-Analyst Weger empfiehlt dem Naturkostfachhandel, Preiseinstiegsmarken zu entwickeln, die nicht an andere Formate wie LEH oder Discount weitergegeben werden.
- Eine gesteigerte Nachfrage nach gesunder Ernährung könnte die Bio-Branche für sich nutzen und für ein entsprechendes Warenangebot werben.
- Bio-Kunden verzichten auf Luxusprodukte und greifen verstärkt zu Rohwaren.
Über die Hälfte der Deutschen schätzt ihre eigene finanzielle Situation derzeit schlechter ein als im Vorjahr. Wie die April-Daten des „Global Consumer Pulse Survey“ von Deloitte zeigen, hat der eingetrübte wirtschaftliche Ausblick auch Auswirkungen auf die Ernährungsgewohnheiten vieler Verbraucherinnen und Verbraucher: Ein Drittel der Befragten habe zuletzt gleich mehrere Verhaltensweisen gezeigt, die auf finanziellen Stress beim Lebensmitteleinkauf hindeuten – vom Kompromiss bei der Produktauswahl bis hin zum kompletten Verzicht.
So berichten 38 Prozent, in jüngerer Vergangenheit eher zu günstigen Zutaten gegriffen zu haben. Bei 37 Prozent sind anstelle des Markenprodukts hauptsächlich preiswertere Eigenmarken im Einkaufswagen gelandet. Laut Zahlen der Marktforschungsgesellschaft GfK für das „Handelsblatt“ erzielten Hersteller von Waren des täglichen Bedarfs zuletzt 20,1 Prozent ihres Umsatzes mit preisreduzierter Ware. Drei Jahre zuvor waren es demnach noch 16,4 Prozent. Markenhersteller machten mit vergünstigter Ware sogar 27 Prozent ihres Umsatzes.
„Sensibilität und Umsicht bei der Preisgestaltung sollten für Händler darum nach wie vor oberste Handlungsmaxime sein.“
Trotz der Rabattoffensiven: Laut Deloitte hat ein Viertel der Befragten bereits ganze Produktgruppen vom Speiseplan gestrichen und sich bei der Einkaufstour auf Grundnahrungsmittel beschränkt. Wiederum 44 Prozent gaben an, nicht zu viele Lebensmittel gekauft zu haben, die später weggeworfen werden könnten.
„Die Ergebnisse unserer aktuellen Umfrage deuten darauf hin, dass zahlreiche Verbraucherinnen und Verbraucher trotz jüngerer Rabattoffensiven bei einzelnen Warengruppen weiterhin finanziell zu kämpfen haben. Sensibilität und Umsicht bei der Preisgestaltung sollten für Händler darum nach wie vor oberste Handlungsmaxime sein“, sagt Egbert Wege, Lead Partner Retail, Wholesale und Distribution bei Deloitte. Nur 41 Prozent der Befragten geben an, Verständnis für die derzeitigen Lebensmittelpreise zu haben.
Knapp jeder vierte Umfrage-Teilnehmende (23%) präferiert eine ausgewogene und qualitativ hochwertige Ernährung, die allerdings auch das monatliche Budget stärker beansprucht. Bei niedrigen Haushaltseinkommen liegt der Anteil der „Gesunden“ bei 17 Prozent, bei den Befragten mit hohem Haushaltseinkommen sind es dagegen 28 Prozent.
Fachhandelskunden können leichter in andere Formate wechseln
Während überdurchschnittlich viele wohlhabendere Befragte (37%) hauptsächlich zu Frischware greifen, entscheiden sich diejenigen mit niedrigem Einkommen eher für den Kauf von verarbeiteten Produkten. Umso bemerkenswerter: Nahezu unabhängig von den jeweiligen Einkünften verbringen insgesamt 35 Prozent aller Umfrage-Teilnehmenden sehr viel Zeit mit der Planung ihrer Lebensmitteleinkäufe. Passend dazu greifen 69 Prozent aktuell selten oder gar nicht auf Lieferdienste zurück – die Zubereitung von Mahlzeiten in den eigenen vier Wänden rückt damit wieder verstärkt in den Fokus.
„Für Verbraucherinnen und Verbraucher gehört es inzwischen zum Alltag, sich gezielt mit Lebensmitteln zu beschäftigen und bei der Einkaufsplanung, Beschaffung und Zubereitung hochgradig flexibel zu sein. Die daraus entstehenden Dynamiken stellen Lebensmitteleinzelhändler zwar vor Herausforderungen, können allerdings auch weitere Wachstumspotenziale bieten“, sagt Egbert Wege. „Durch die wachsende Kompromissbereitschaft bei der Produktauswahl entstehen Bedarfslücken, die Retailer mit der weiteren Stärkung der eigenen Handelsmarken schließen können. Zugleich lassen sich die Kundenpräferenzen für eine gesundheitsbewusste und preiswerte Ernährung mit Vorrats-Apps oder Maßnahmen zur Kundenbindung direkt am Point of Sale bedienen.“
Für den Bio-Fachhandel besteht nach Ansicht des Handelsexperten die Schwierigkeit, dass zum Teil dieselben Marken auch in anderen Formaten wie Drogeriemärkten und Vollsortimentern zu bekommen seien. Dadurch könnten Fachhandelskunden leichter in andere Formate wechseln. Wege empfiehlt dem Fachhandel, Preiseinstiegsmarken zu entwickeln, die nicht an andere Formate weitergegeben werden. Gerade erst hat Alnatura mit „Prima! Alnatura“ eine neue Eigenmarke eingeführt, die preislich mit Discounterware mithalten kann.
Dazu müsse man sich in Genossenschaften zusammenschließen und sich die sogenannten Eckprodukte ansehen, für die Kunden in die Märkte gehen. „Diese Produkte könnten dann preislich so stark reduziert werden, dass sie dem Vergleich mit einem konventionellen Vollsortimenter standhalten“, so Wege im Gespräch mit BioHandel. Schließlich gehe es darum, die Menschen in die Fachmärkte zu bekommen, damit sie dort wieder ihren gesamten Warenkorb kaufen.
Fachhandel kann Regionalität viel stärker individualisieren und emotionalisieren
Ein zweiter Ansatz sei das Marketing, das im Bio-Fachhandel noch stark verbessert werden könne. Nach einer weiteren Deloitte-Studie seien zwar immer mehr Menschen daran interessiert, sich gesünder zu ernähren, jedoch ärgerten sie sich, dass sie in mehrere Läden gehen müssten, um die entsprechenden Produkte zu finden.
Hier habe die Bio-Branche die Chance, für ihr Warenangebot zu werben und mit einer Art Gesundheits- oder Bio-Index zu erklären, was jenseits vom Nutri-Score wirklich gesund ist. „Das würde dem Konsumenten diesen Schmerz, der in der Studie herausgekommen ist, vielleicht ein bisschen nehmen“, hofft Wege und sieht dadurch auch die Chance, dass sich Gesundheitsbewusste wieder stärker dem Bio-Fachhandel zuwenden. Was gesund ist, müsse auf Verbandsebene festgelegt werden.
Der Bio-Fachhandel könne auch in den Bereichen Erlebnis und Regionalität stärker punkten, meint Egbert Wege. Zwar setze der konventionelle Handel auch auf Regionalität mit speziellen Eigenmarken – aber der Fachhandel sei in der Lage, das Thema viel stärker zu individualisieren und zu emotionalisieren, zum Beispiel indem an frequenzstarken Tagen Bauern eingeladen werden, die den jeweiligen Laden beliefern. Auch der Erwerb von Anteilen an landwirtschaftlichen Betrieben oder den Läden selbst schaffe ein stärkeres Gefühl der Verbundenheit.
Um Kunden noch besser zu binden, empfiehlt der Handelsexperte ein Loyalitätsprogramm, das zentral von einem Verband oder Großhändler erstellt werden könnte und von allen angeschlossenen Läden individuell genutzt werden kann. „Wenn es gelingt, den Kunden überzeugende Argumente zu liefern, warum es sinnvoll ist, für ein optimiertes Einkaufserlebnis bestimmte personenbezogene Daten weiterzugeben, ist der wichtigste Schritt getan“, sagt Wege. Über die heruntergeladene App könne ein Bio-Markt seine Kunden direkt ansprechen, auf Sonderangebote hinweisen und nach Analyse der Einkäufe sogar individuell auf Angebote für Waren hinweisen, die vom Kunden bereits nachgefragt wurden.
„Wir erleben die Kundinnen und Kunden nicht unter Spar-Stress.“
Loyalitätsprogramme ließen sich mittlerweile relativ kostengünstig und zeitnah erstellen, sagt Wege. Bei zum Teil noch verwendeten „Stempelkärtchen“ wisse man nichts über den Kunden. Die App ermögliche auch, Rezepte zu empfehlen und die dazu nötigen Zutaten zu bewerben. Auch Event-Termine wie der Besuch eines regionalen Lieferanten ließen sich ohne großen Aufwand übermitteln.
Vor allem das Thema Gesundheit könne in der App gut kommuniziert und auf das Fachhandelssortiment bezogen werden. Angesichts des Personal- und Fachkräftemangels im Handel sei die Digitalisierung bei der Pflege der Kundenbeziehung eine hervorragende Alternative, die auch junge Menschen anspreche.
Von gestressten Kunden kann zumindest im Naturkostmarkt Bio am Hafen in Greifswald keine Rede sein. „Von den Lifestyle-Kunden sind viele weg, so dass diejenigen, die es mit Bio wirklich ernst meinen, jetzt entspannt einkaufen können“, sagt Inhaber Markus Maaß. „Wir erleben die Kundinnen und Kunden nicht unter Spar-Stress.“ Auch wenn beim Wein auf den Preis geachtet werde: Selbst High-End-Weine würden weiterhin von einkommensstarken Kunden gekauft. Bio-Gin sei derzeit sogar ein Top-Seller, sagt Markus Maaß.
Viele sparten an Luxusartikeln und „Gedöns“, ersetzten also Artikel wie TK und Backmischungen durch entsprechende Rohware. Bei fast 8.000 Artikeln sei aber auch der „entspannte Griff“ zu Großgebinden oder günstigeren Alternativen möglich, so der Ladner. So fände MHD-Aktionsware und Frischware zweiter Wahl viel stärkere Beachtung, teilweise gezielt von Neukundschaft aus dem LEH.
Einkaufskörbe sind voller, Kassiervorgänge stark reduziert
Vor der Pandemie seien viele Kunden noch drei bis fünf Mal die Woche wegen Kleinigkeiten in den Laden gekommen. Als es dann wegen der Ansteckungsgefahr ratsam war, möglichst wenige Außenkontakte zu haben, sei der Einkauf in der Regel auf einen Besuch pro Woche reduziert worden. „Dieser Rhythmus ist bei den verbliebenen Kunden beibehalten worden. Die Einkaufskörbe sind dadurch voller und die Kassiervorgänge stark reduziert, was am Ende Kosten spart“, sagt Maaß.
Die Gefahr, dass sich nun alle aus finanziellen Nöten dem konventionellen Handel zuwenden, um dort ihre Lebensmittel zu kaufen, sieht Markus Maaß nicht. Genährt werde seine Ansicht auch durch ein Event, dass zur Sommersonnenwende in unmittelbarer Nähe seines Ladens stattfand: „Die Teilnehmer haben sich bei uns mit Getränken versorgt, statt beim konventionellen Getränkemarkt direkt nebenan einzukaufen. Und bei der Rückgabe des Leerguts wurde sogar auf die Auszahlung des Pfandgeldes verzichtet.“
„Unsere Stammkundschaft ist nicht mehr ganz so jung und hat in der Mehrzahl schon persönliche Krisen wie Arbeitslosigkeit und Firmenpleiten mitgemacht, hat also gelernt, sich anzupassen und kommt dadurch nicht in Stress, sagt Maaß. „Bei Studierenden sehen wir, dass das Gefühl deutlich anders ist: Erst war mit den Mindestlohnsprüngen und ohne Kultur sehr viel Geld in den Haushaltskassen, nun haben auch Inflation, Energiepreise und Mieterhöhungen große Löcher gerissen.“
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