Was verstehen Sie unter Gerechtigkeit im Ökolandbau?
Mit Gerechtigkeit im Ökolandbau verbinde ich den Anspruch, das Wirtschaften dem Gesamtwohl zu unterstellen und das Wohlergehen des Einzelnen ohne Benachteiligung zu berücksichtigen. In der Ökobranche ist dies besonders wichtig, weil sich unsere Praktiken am Schutz und Wiederaufbau unserer Lebensgrundlagen orientieren. Zu Gerechtigkeit gehört auch, allen den Zugang zu Bio-Lebensmitteln zu ermöglichen und Bio-Produkte nicht als exklusive Marktschiene zu entwickeln.
Wo sehen Sie Brennpunkte innerhalb der gesamten Wertschöpfungskette?
Missstände entstehen an allen Teilen der Wertschöpfungskette, wenn ein Machtungleichgewicht zwischen den Partnern besteht. Ohne Korrektiv kann sich so ein dauerhaftes Ungleichgewicht etablieren, das mit unseren Prinzipien in der Bio-Branche unvereinbar ist. Ein fiktives, aber realistisches Beispiel: Als große Molkerei besitze ich in einem Markt mit vielen kleinen Milchviehbetrieben eine große Macht im Einkauf.
Als einzelner Milchviehbetrieb ist man in dieser Konstellation nahezu ohnmächtig, die eigene Situation zu beeinflussen – vor allem wenn man nicht über Erzeugergemeinschaften oder Verbände organisiert ist. Auf der anderen Seite befindet sich die Molkerei mit einem großen Händler vielleicht selbst in einem Machtungleichgewicht.
Ignoriert man diese Ungleichgewichte, passiert das, was man aktuell häufig sieht: Die kleinen Partner in der Kette können nicht mehr kostendeckend wirtschaften – es kommt zum Höfesterben. Dabei entsteht automatisch eine Spirale nach unten, was Qualität, Ökologie und soziale Verantwortung angeht. Der Druck in der Wertschöpfungskette wird nach unten weitergegeben und einzelne Landwirte befinden sich am unteren Ende in der schwächsten Position.
Was sind die größten Herausforderungen auf Verbandsebene?
Bei Bioland haben wir als größte Herausforderung erkannt, dass wir alle mit in die Verantwortung nehmen müssen. Die reine Anklage und Schuldzuweisungen ändern nichts am System und wir allein tun dies auch nicht. Um überhaupt Brennpunkte beschreiben zu können, müssen wir die Situation zwischen den Partnern auf der gesamten Wertschöpfungskette transparenter machen und hinter die Mechanismen schauen. Daraus ergibt sich der Versuch, gemeinsam festgelegte kettenübergreifende Regeln einzuführen, die alle mitzeichnen und einzuhalten haben, sowie die Schaffung eines Korrektivs in Form einer Kontroll- und Beschwerdeinstanz.
Schuldzuweisungen ändern nichts am System.
Eine aktuelle Herausforderung besteht auch in der Frage, wie man faire Erzeuger- und Herstellerpreise an den Händler herantragen kann, ohne dass dadurch unfaire Verbraucherpreise entstehen. Diese Debatte hatten und haben wir auch im Rahmen unserer Zusammenarbeit mit Lidl und anderen Marktpartnern: Wir wollen durch Beratung, Begleitung und Überwachung von Fairplay-Regeln langfristige Verträge, alternative Preissysteme und Kostentransparenz fördern und haben Handlungsinstrumente dazu entwickelt.
Was wären konkrete Lösungsansätze oder -vorschläge?
Als Verband vertreten wir gegenüber unseren Partnern stets unsere Werte und Prinzipien und gehen in den Dialog, sollten diese nicht eingehalten werden. Die größte Herausforderung ist dabei, langfristige Beziehungen vertraglich aufzubauen, welche gleichzeitig flexibel auf Schwankungen reagieren können. Das kann nur über Kollektive funktionieren. Als Kollektiv können wir dann auch über Konsequenzen entscheiden. Die Stärke solcher Kollektivmarken, wie Demeter, Naturland oder Bioland, ist in Deutschland im Vergleich zu änderen Ländern in Europa sehr ausgeprägt.
In der IFOAM haben wir uns vor allem auf die gesetzliche Lobbyarbeit zu Verordnungen oder Gesetzen konzentriert, wie zuletzt beim Gesetz der unlauteren Handelsbedingungen. Zudem fördern wir den Erfahrungsaustausch, um Regionen und Akteure darin zu bestärken, sich besser zu organisieren und zu kooperieren. In Osteuropa haben wir hier noch einen längeren Weg vor uns, da die Strukturen noch nicht so weit entwickelt sind. Während hingegen in Südeuropa zwar große Kollektive bestehen, diese aber nicht auf den Markt ausgerichtet sind.
Durch den grenzübergreifenden Austausch können wir eine Transparenz und Dynamik erzeugen und so einem Machtungleichgewicht entgegenwirken.
Durch den grenzübergreifenden Austausch können wir eine Transparenz und Dynamik erzeugen und so einem Machtungleichgewicht entgegenwirken. In Deutschland sind wir im Vergleich schon sehr weit, da die Landwirte bei uns gut organisiert sind und über Verbände eine Marktpolitik in den Wertschöpfungsketten umsetzen, die mehr Fairness und Augenhöhe gewährleistet. Das spiegelt sich auch in deutlich höheren Erzeugerpreisen wider.
Also trägt die Verbandsvielfalt in Deutschland zur Fairness bei?
Sicherlich. Der Wettbewerb zwischen den Verbänden ist auch ein Leistungswettbewerb. Landwirte entscheiden sich für den Verband, bei dem sie den höchsten Mehrwert für sich sehen. Als Individuum kann Gerechtigkeit nicht funktionieren, da sie immer sehr stark von meiner eigenen Willkür und Situation abhängig ist. Daher muss das Thema an ein Kollektiv übertragen werden.
Wie kann die Ökobranche eine Vorreiterrolle für andere Wirtschaftsformen einnehmen?
Das Prinzip der Ökologie ist in Regeln übersetzt worden, vor allem in Anbaurichtlinien – weniger in Richtlinien für die Herstellung und den Handel. Im Bereich der Tiergesundheit ist man schon recht weit. Im Bereich der Gerechtigkeit gibt es Ansätze, zum Beispiel die Etablierung verschiedener „Fair-Labels“. Eine Vorreiterrolle kann man aber nur einnehmen, wenn man diese Ansätze weiterentwickelt und man beispielsweise Fair-Preis-Mechanismen über die gesamte Wertschöpfungskette organisiert.
Was ist der wichtigste Hebel, um etwas zu verändern? Muss alles gesetzlich geregelt werden oder welche anderen Wege können beschritten werden?
Gesetzlich geregelt werden kann immer nur ein Mindeststandard, der sich an der gelebten Praxis orientiert. Man kann nicht die ganze Verantwortung dem Staat überlassen. Die Öko-Pioniere, auch im Bioland-Verband, haben es vorgemacht und sind über die Standards mit der Entwicklung eigener, kollektiver Regeln hinausgegangen. Nicht immer auf den Gesetzgeber zu warten, sondern eine eigene Regulierung zu schaffen, gibt die Möglichkeit, den weiteren Prozess selbst mitzugestalten.
Hintergrund zur Interviewreihe
Im Rahmen des Gemeinschaftsprojekts des 17. Traineeprogramms Ökologische Land- und Lebensmittelwirtschaft setzt sich ein fünfköpfiges Team (Raphael Pierro, Carla Proetzel, Cathrin Bardenheuer, Laura Kehl und Katharina Tietz) mit dem Thema Gerechtigkeit in der Biobranche auseinander. Hintergrund ist das starke und schnelle Wachstum der Biobranche in den vergangenen Jahren – von einer Nische hin zu einem beachtlichen Wirtschaftssektor. Findet sich der Ursprungsgedanke der Gerechtigkeit, wie in den IFOAM-Prinzipien verankert, trotz des Wandels in der Branche wieder? Um verschiedene Perspektiven und den nötigen Handlungsbedarf aufzuzeigen sowie konstruktive Lösungsvorschläge zu erarbeiten, hat das Trainee-Teams einige Akteure und Akteurinnen aus den verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette befragt.
Weitere Interviews aus der Reihe:
„Es braucht viele starke Frauen, die ihr Ding machen“ - Teil 1 mit Landwirtin Anna Kenner
„Kooperationen mit dem LEH könnten der Gerechtigkeit dienen“ - Teil 2 mit VGS Bioland Geschäftsführerin Berenice Nickel
„Etwas zu ändern, bedeutet oft auch, seine Komfortzone zu verlassen“ - Teil 3 mit Theresia Sanktjohanser vom Familienbetrieb Quint
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