Biohandel

Wissen. Was die Bio-Branche bewegt

Diskussionsrunde

Fachhandel als Transformations-Beschleuniger

Welchen Beitrag leistet Bio für die globale Ernährungssicherheit? Und wie können Verbraucher dabei unterstützt werden, die „richtige“ Entscheidung bei der Wahl ihrer Lebensmittel zu treffen? Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer Diskussion im Vorfeld der Biofach.

„Multiple Krisen haben einen nicht wegzudiskutierenden Einfluss auf uns alle, persönlich wie gesellschaftlich, weltweit, mit allem, was uns auch als Branche tangiert“. Mit diesen Worten eröffnete Barbara Böck, Marketingleiterin des Messeduos Biofach und Vivaness vergangenen Donnerstag eine Diskussionsveranstaltung, die im Vorfeld des Branchentreffs stattfand. „Umso sinnvoller und sinnhafter ist der diesjährige Kongressschwerpunkt Bio, Ernährungssouveränität und wahre Preise, auch wenn die Planung schon viel früher losging“, so Böck.

Tina Andres, stimmte dem zu. Themen wie Ernährungssicherheit und -souveränität sind der Vorstandsvorsitzenden des Bundesverbands Ökologische Lebensmittelwirtschaft (BÖLW) zufolge seit Jahrzehnten relevant. Die damit verbundene, häuft gestellte Frage, ob wir die Welt ökologisch ernähren können, beantwortete sie eindeutig mit Ja.

Gerade das vergangene Jahr habe deutlich gezeigt, wie viel souveräner das System Bio funktioniere. Allerdings werde dessen gesellschaftlicher Mehrwert noch nicht zureichend erfasst. Gleiches gilt Andres zufolge für das Thema True Cost: „Wir haben 90 Millionen Euro Folgeschäden pro Jahr aus der Ernährungswirtschaft nur in Deutschland und das System Bio vermeidet diese Folgeschäden“, rechnete Andres vor.

Selbstverständnis vieler Verbraucher ist erschüttert

Der Krieg in der Ukraine mit den fürchterlichen Folgen für die Menschen und die Ernährungssysteme habe gezeigt, wie unsicher unsere Lieferketten sind und einen Vorgeschmack darauf gegeben, was mit unserem Ernährungssystem passiert, wenn Ressourcen sich verknappen. Als Beispiel nannte Andres die in die Höhe geschnellten Preise für Stickstoffdünger, die dazu führten, dass die Preise konventioneller Lebensmittel enorm stiegen.

„Dass die billigsten Produkte nicht mehr jederzeit greifbar waren, hat das Selbstverständnis vieler Verbraucher enorm erschüttert“, so die BÖLW-Vorstandsvorsitzende. Das habe auch das System Bio zu spüren bekommen. Zwar seien die Verbraucher Bioprodukten treu geblieben, sie hätten aber stärker nach Preiseinstiegsmarken oder Handelsmarken geschaut. „Um das aufzubrechen, brauchen wir eine Inwertstellung der gesellschaftlichen Mehrwertleistung, die das System Bio bringt“, forderte Andres. Denn solange Produkte, die unter enormem Verbrauch von gesellschaftlichen Ressourcen hergestellt würden, diesen Verbrauch nicht mit dem Preis nachweisen müssten, Folgeschäden also vergesellschaftet und Gewinn privatisiert würden, solange könne man nicht darauf vertrauen, dass Verbraucher immer die richtige Wahl träfen.

Dabei, die Konsumentinnen und Konsumenten bei ihrer Wahl ihrer Nahrungsmittel zu unterstützen, kommt der Digitalisierung eine besondere Rolle zu, so die Überzeugung von Futurologe Max Thinius. „Wir haben immer mehr Daten, die uns zeigen, welche Kosten entstehen und welche Möglichkeiten wir haben, das zu verändern“, sagte Thinius. Als Beispiel nannte er eine App, die anhand der gemessenen Gesundheitsdaten erfasst, wie die Ernährung vermutlich aussieht. „Ich erkenne also nicht nur, was die Ernährung für mich tut, sondern ich sehe an der App auch sehr genau, was meine Ernährung sehr wahrscheinlich mit der Welt macht.“

„Wir haben immer mehr Daten, die uns zeigen, welche Kosten entstehen und welche Möglichkeiten wir haben, das zu verändern.“

Max Thinius, Futurologe

Eine weitere Möglichkeit biete Thinius zufolge ein digitaler Euro, dessen Einführung die Europäische Zentralbank derzeit prüft. Dieserkönne nicht nur den Finanzwert, sondern im Prinzip auch die True Cost abbilden. „Das heißt, ich kaufe ein Produkt mit meinem Smartphone und habe dann direkt auch die Blockchain, die hinter diesem Produkt liegt, in meiner Einkaufsliste“, so Thinius. Als weiteren Aspekt nannte er die „Smart Citys“, die Agrarwirtschaft in die Städte holten, „natürlich ökologisch, anders geht es gar nicht, wenn man eine klimapositive Stadt werden will.“

Generell zeigte sich der Futurologe sicher, dass die Entwicklung durch die Digitalisierung quasi automatisch in Richtung Nachhaltigkeit und Bio geht. Die Frage sei allerdings, welche gesellschaftlichen Regulierungen es gebe und wie der heutige Bio-Handel damit umgehe, damit das Ganze nicht zu einem Spielball der großen Industrie werde, „weil die natürlich auch Daten bekommt und auswerten kann“, so Thinius.

Digitale Lösungen für bessere Kaufentscheidungen

Auf einen anderen Aspekt, der bei der Entscheidung für bestimmte Lebensmittel eine große Rolle spielt, wies Jörg Reuter hin: „Ich glaube, dass Essen keine Vernunft-Veranstaltung ist, sondern soziale Interaktion, Belohnung, Erinnerung. Es gibt immer auch kulturelle Kontexte“, sagte der Chef des Food Campus Berlin und Geschäftsführer beim Artprojekt Nature & Nutrition. Gleichzeitig sei Essen „low interrest“: Reuter zufolge treffen wir jeden Tag viele Essens-Entscheidungen, mit denen wir uns nicht immer komplex beschäftigen können.

Die Planetary Health Diet, die unter der Maßgabe entwickelt wurde, eine wachsende Bevölkerung mit gesunden Lebensmitteln aus nachhaltigen Produktionssystemen zu versorgen, muss ihm zufolge deshalb zu einem Planetary Health Lifestyle werden. Die Menschen müssten lustvoll mitgenommen werden.

Digitale Lösungen könnten den Verbrauchern helfen, Entscheidungen zu treffen, „aber da muss noch ganz viel am Regal passieren“, so Reuter. Seiner Einschätzung nach funktionieren Lebensmittel dort noch längere Zeit analog. Daher sei es gut , wenn Konsumenten auf dem Produkt mit einfachen Informationen abgeholt würden. Deshalb sei zusätzlich zu den Bio-Labels auch ein sogenanntes Meta-Label wie der Planet-Score nötig. Dabei wies Reuter dem Naturkostfachhandel eine entscheidende Rolle als Transformationsbeschleuniger zu: Für diesen liege eine Chance darin, die Planetary Health Diet als Narrativ viel stärker zu spielen und in die Kommunikation zu integrieren.

Ökolandbau schafft Freiräume

Auf den Stellenwert und die Vorteile des Ökolandbaus ging IFOAM-Interim Executive Director Marco Schlüter ein. Gerade in vielen ärmeren Regionen der Welt gebe der Ökolandbau viele Freiräume, weil hier autarker produziert werden könne. Zwar kaufe man auch hier Betriebsmittel zu, aber deutlich weniger, außerdem habe man den gesamten Betriebskreislauf im Fokus und schaffe viel weniger Abhängigkeit. Ebenfalls entscheidend in Bezug auf Ernährungssicherheit und -souveränität ist Schlüter zufolge das Thema Marktzugang.

Als Beispiel nennt Schlüter die Philippinen, „das Land mit den meisten Reissorten, das zum Netto-Importeur von Reis geworden ist“. Ihm zufolge geht es bei der Diskussion der Frage, wie wir die Welt ernähren können, in erster Linie immer um die Technologie. Allerdings würden 80 Prozent der Lebensmittel, die wir weltweit konsumieren, von Kleinbauern produziert, „und sie kommen an die intensiven Inputs mit teuren Techniken gar nicht ran“, so Schlüter. „Sie haben nicht das Geld, nicht den Zugang, das ist also gar keine Lösung für 80 Prozent unserer Lebensmittelproduktion, von der wir abhängig sind.“ Die Politik richte sich aber meist an den Großen aus, auch durch agrarindustrielle Lobby. Wichtig sei deshalb eine Politik für Kleinbauern.

Futurologe Max Thinius sieht auch hier die Digitalisierung als Chance: „Wenn wir zum Beispiel in Indien Bauern haben, die wir bisher nicht an dieses Wirtschaftssystem anschließen konnten, dann haben sie jetzt über Chat GPT die Möglichkeit, über Künstliche Intelligenz (KI) den ganzen bürokratischen Organisationsaufwand zu bewältigen, weil sie dafür nur ein Smartphone brauchen.“ Zudem könnten sie darüber auch Handel treiben und über weltweite Daten Empfehlungen bekommen, wie sie ohne konventionellen Dünger bessere Ergebnisse erzielen können.

AHV als großer Hebel

Ein wichtiger Schritt, um hierzulande vom Umdenken in ein Umhandeln zu kommen, ist für Jörg Reuter die geplante Ernährungsstrategie der Bundesregierung. Zwar sei etwa der Standard der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) in Kantinen erst bis 2030 verpflichtend. Doch diese Zeit brauche es andererseits auch, um Ernährungsgewohnheiten zu ändern. „Oft ist es die Frage von ein bis zwei Generationen, bis sich Ernährungsverhalten umstellt“, so die Erfahrung des Head of Food Campus Berlin.

„Wenn wir uns weiter so ernähren, wie es der globale Norden tut, dann können wir die Welt sowieso nicht ernähren, egal was wir tun.“

Tina Andres, BÖLW-Vorstandsvorsitzende

Auch die BÖLW-Vorstandsvorsitzende Tina Andres begrüßte es, dass im Koalitionsvertrag die Idee einer Ernährungsstrategie aufgegriffen wurde. Allerdings reiche es ihr zufolge nicht, ein Ziel auszurufen, es müssten jetzt auch Taten folgen. Menschen mit einer anderen Art der Ernährung in Kontakt zu bringen sei wichtig, dazu biete die Außer-Haus-Verpflegung (AHV) einen großen Hebel.

Nötig sei zudem viel mehr Verbraucherinformation und eine ressortübergreifende Politik, denn Andres zufolge kommen wir an dem Thema Internalisierung externer Kosten, der Vergesellschaftung von Schäden nicht vorbei. Das sei einer der wesentlichen Gamechanger. „Zugang zu einer vernünftigen, gesunden Ernährung ist ein Menschenrecht, nicht der massenhafte Konsum von Billigfleisch“, so Andres.

Ermöglichend denken, keine Verbote, kein Verzicht

Zudem sei eine starke Intensivierung der Forschung in ökologische Systeme nötig. So hätten diverse Tests erwiesen, dass zum Beispiel die Ertragslücke zwischen Bio- und konventionellem Anbau geschlossen werden kann. Schlussendlich müsse immer wieder auf den Fakt hingewiesen werden, dass Transformation eine gesamtgesellschaftliche Veränderung bedeute. „Wenn wir uns weiter so ernähren, wie es der globale Norden tut, dann können wir die Welt sowieso nicht ernähren, egal was wir tun“, ist Andres überzeugt.

IFOAM-Interim Executive Director Marco Schlüter gab Andres Recht. Spätestens mit den aktuellen Krisen sei die Zeit der Ideologien vorbei. „Wir brauchen pragmatisches Denken und Handeln von allen Akteuren“, so seine Einschätzung. Da Politik immer interessensgeleitet sei, müsse man deutlich machen, dass eine Umkehr, eine Transformation, auch im Interesse der Länder liege. „Konkrete Beispiele zeigen: Bio wirkt. Hier sind Lösungsmöglichkeiten für komplexe Probleme“, sagte Schlüter.

Möglichkeiten aufzeigen, wirksam sein im eigenen Leben und vor allem: ermöglichend denken, ohne Verbote und Verzicht positive Bilder gestalten – das ist für Tina Andres die große Aufgabe, vor der wir alle stehen.

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