Dieser Artikel wurde am 9. Mai 2022 aktualisiert.
Ding Dong. Das Geschäft mit Lebensmitteln, die bis vor die Haustür geliefert werden, boomt. Mit Alnatura hat in der vergangenen Woche einer der großen Player aus dem Bio-Fachhandel angekündigt, bald im Zustellgeschäft mitzumischen. Noch im ersten Halbjahr 2022 will der Bio-Händler mit dem Pilotprojekt „Alnatura Super Natur Markt Online“ an den Start gehen.
Damit erhöht sich auch der Konkurrenzdruck für klassische Bio-Lieferdienste, die im Kerngeschäft meist Abo-Kisten anbieten. Die Sparte wurde im ersten Corona-Jahr regelrecht überrannt. Manche Anbieter, etwa die Märkische Kiste aus Marienfelde, verhängten kurzzeitig einen Neukunden-Stopp, weil sie die sprunghaft gestiegene Nachfrage nicht bewältigen konnten.
Gemessen am Umsatz verzeichneten die Bio-Lieferdienste unter den Fachhändlern 2020 die weitaus stärksten Zuwächse und waren laut dem Umsatzbarometer BioHandel auch im ersten Quartal 2021 mit 42,6 Prozent die Spitzenreiter beim Umsatzplus. Im zweiten Quartal wuchsen sie um weitere 10,1 Prozent. Selbst mit einem Minus von 15,6 Prozent lagen die Bio-Lieferdienste im vierten Quartal 2021 immer noch auf einem hohen Niveau.
Angetrieben von der gestiegenen Nachfrage in der Corona-Pandemie haben sich auch Schnelllieferdienste wie Gorillas, Flink und Flaschenpost in den Markt gekämpft, neue Angebote wie der Berliner Unverpackt-Lieferdienst Alpakas kommen dazu. Mit Alnatura fährt demnächst erstmals auch einer der großen Bio-Filialisten seine Waren aus. Als erste Liefergebiete kommen Berlin und Frankfurt am Main infrage, dort sucht der Händler in mehreren Stellenanzeigen eine oder einen „Verkäufer*in mit Lieferservice im Bio-Einzelhandel“.
Vorbild DM?
Das, was bislang über das Konzept bekannt ist, mit dem der Bio-Händler den Schritt ins eigene Zustellgeschäft wagt, erinnert an das Pilotprojekt der Drogeriemarktkette DM. Die testete ihre „Express-Lieferung“ zuerst in Karlsruhe, inzwischen ist der Service auch in Teilen von Berlin, München und Wien verfügbar. Dort erfolgt die Kommissionierung der Waren aus den Filialen heraus, ausgeliefert wird von den eigenen Mitarbeitenden per E-Lastenrad.
Kundinnen und Kunden von Alnatura sollen ihre Waren ebenfalls direkt aus den Super Natur Märkten erhalten. Zudem ist eine Selbstabholung im Markt möglich. Die Auslieferung übernehmen auch beim Bio-Händler die eigenen Angestellten. Transportieren sollen sie die Bestellungen mit elektrisch betriebenen Fahrzeugen. Um welche Fahrzeuge es sich handelt, ist noch nicht bekannt. Einen heißen Draht zum Hersteller für E-Bikes und Cargo-Bikes Riese & Müller hat Alnatura bereits. In Zusammenarbeit mit dem Fahrradhersteller bietet der Bio-Händler vor einigen Filialen elektrisch betriebener Lastenräder für die Kundschaft zum Verleih an.
Ähnlich wie DM wird Alnatura sein neues Bestellangebot vermutlich über eine App zur Verfügung stellen. Den eigenen Online-Shop hat der Bio-Händler Anfang 2020 geschlossen. In einer schriftlichen Stellungnahme teilte Alnatura damals mit, man überarbeite das digitale Angebot und prüfe „neue Möglichkeiten von Partnerschaften im E-Commerce“.
Unterstützung aus der Schweiz
In seinem Pilotprojekt arbeitet Alnatura mit dem Schweizer Online-Händler Farmy zusammen. Das Unternehmen, das seit 2014 Lebensmittel über das Internet verkauft, gehört inzwischen zu den größten Online-Händlern für Lebensmittel in der Schweiz – nach Migros.ch und Coop.ch. Über 1.200 Produzenten bieten ihre Ware über den Webshop von Farmy an. Das Sortiment umfasst um die 14.500 Produkte, mehr als die Hälfte davon sind bio. Geliefert wird am Folgetag der Bestellung.
Wie die Zusammenarbeit von Alnatura und Farmy genau aussieht, ist noch nicht bekannt. Die beiden Unternehmen verbindet der Kontakt zu Dominique Locher, ehemaliger Chef der Migros-Tochter Le Shop, der in Farmy investiert und als Aufsichtsrat involviert ist. Bei Alnatura ist Locher als digitaler Beirat im Einsatz.
Parallel zum stationären Geschäft gibt es die Produkte von Alnatura online bereits bei Bringmeister, Greenstories, Picnic und Knuspr. Alle vier sind Handelspartner von Alnatura. „Mit der dortigen Entwicklung sind wir sehr zufrieden“, teilt eine Alnatura-Sprecherin mit. Außerdem sind die Produkte als Teil des Tegut-Sortiments über Amazon Prime erhältlich, sowie über den finnischen Bringdienst Wolt, den der hessische Lebensmittelhändler in Frankfurt am Main testet.
900 Alnatura-Produkte bei Knuspr
Mit Knuspr arbeitet Alnatura seit dem vergangenen Jahr zusammen. Das Unternehmen, mit dem der tschechischen Online-Lebensmittelhändlers Rohlik in Deutschland Fuß fassen will, legt laut eigenen Angaben Wert auf hochwertige und regional produzierte Lebensmittel. Sein Angebot beschreibt Knuspr als einen Mix aus Supermarkt und Hofladen. Geliefert wird innerhalb von drei Stunden nach Eingang der Bestellung.
Das Sortiment von Knuspr umfasst rund 12.000 Produkte. Knapp 30 Prozent davon tragen das Bio-Siegel, rund 900 ein Alnatura-Etikett. Insgesamt gibt es unter der Marke Alnatura rund 1.300 Produkte. Darüber hinaus bietet der Online-Händler Produkte weiterer Bio-Marken an, zum Beispiel Followfood, Andechser oder Berchtesgadener Land.
Im unteren Preissegment hat Knuspr eigene Bio-Marken am Start, die auf Discount-Niveau rangieren. Bald könnte das Angebot im Preiseinstieg erweitert werden. Knuspr sei in Gesprächen „mit einem Händler aus der Region [Rhein-Main], der nicht ausschließlich Bio vertreibt, aber eine eigene Bio-Marke im Preiseinstieg hat“, teilte das Unternehmen auf Nachfrage mit. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich dabei um „Tegut – Bio zum kleinen Preis“ handelt.
Bis 2024 wird Knuspr 500.000 aktive Kunden zählen.
Seit gut zwei Monaten hat Knuspr seinen zweiten Standort in Deutschland in Betrieb. Das Lager und Verteilzentrum in Bischofsheim bei Mainz befindet sich in etwa 30 Kilometer Entfernung zum Alnatura-Campus in Darmstadt. Von dort aus beliefert Knuspr laut Unternehmensangaben mehr als 7.500 Kundinnen und Kunden. Täglich gehen rund 800 Bestellungen im Wert von durchschnittlich 60 Euro ein. Bis Ostern rechnet Knuspr mit 1.000 Bestellungen pro Tag. Das gab der Händler in der vergangenen Woche bei einem Pressegespräch bekannt.
Am Standort München, wo Knuspr im August 2021 startete, zählt das Unternehmen laut eigenen Angaben inzwischen über 50.000 Kunden, die täglich mehr als 3.000 Bestellungen aufgeben. Der Warenwert pro Einkaufskorb liegt hier im Durchschnitt bei 80 Euro.
Doch Knuspr will mehr: „Bis 2024 wird Knuspr 500.000 aktive Kunden zählen und das Sortiment deutschlandweit aus über 20.000 Produkten bestehen. Dann werden wir in allen großen deutschen Ballungsräumen vertreten sein, einen Jahresumsatz von 1,2 Milliarden Euro erzielen und die Nummer 1 der Online-Lebensmittellieferdienste in Deutschland sein“, sagte Knuspr-CEO Erich Comor.
Verlässlichkeit ist wichtiger als Schnelligkeit
Ob Knuspr sich mit einer Lieferzeit von drei Stunden im Wettbewerb mit Flink und Gorillas durchzusetzen kann, muss sich zeigen. Beide werben zwar nicht mehr mit einem konkreten Zeitfenster von zehn Minuten. Auf den Webseiten versprechen sie aber immer noch Lieferungen „in Minuten“. Wichtiger als die Schnelligkeit sei die Verlässlichkeit, lautet die Antwort von Patrick Weiss, Head of Brand & Marketing Communications bei Knuspr. „Dass Kunden auch das bekommen, was sie bestellt haben.“
So sieht es auch Christian Goerdt, Vorstand im Verband „Ökokiste“, dessen Mitgliedsbetriebe ihre Abokisten ein bis zweimal wöchentlich zu ein und derselben Adresse bringen. „Für Kunden scheint die Liefersicherheit wichtiger zu sein als eine noch schnellere Lieferung.“ Anbieter wie Flink und Gorillas werden mit ihren kleinen Innenstadtlagern dagegen schnell an ihre Grenzen kommen, vermutet Goerdt. „Besonders wenn es um frische Produkte wie Spinat oder Salat geht, die man nicht lange lagern kann.“
Vor diesem Hintergrund dürften Alnatura und Farmy ein Augenmerk darauf legen, dass die gelieferten Waren nicht allzu häufig vom digitalen Warenkorb abweichen. Mitarbeitende von Knuspr rufen sogar beim Kunden an, sollte der gewünschte Erdbeerjoghurt nicht vorrätig sein. „Der Kunde kann dann selbst entscheiden, welches Produkt er stattdessen haben möchte, oder ob er diesmal auf den Joghurt verzichtet“, sagte Patrick Weiss bei einer Führung durch das Knuspr-Lager in Bischofsheim.
Auch im Ökodorf Brodowin sieht man die Schnelllieferdienste kritisch, obwohl die eigenen Produkte bei Alpakas, Amazon Fresh und Gorillas gelistet sind. „Das Bild, das sie vermitteln, ist aus unserer Sicht Greenwashing. Sie bezeichnen sich als nachhaltig, nur weil sie mit dem E-Fahrrad liefern. Gleichzeitig rufen sie zu Impulskäufen auf und das ist das Unökologischste überhaupt, ebenso die Auslieferung für eine Handvoll Produkte“, sagt Pressesprecherin Franziska Rutscher. Warum die Brodowiner Produkte dann dort bestellbar sind? „Wir heißen das Konzept nicht gut, finden aber schon gut, dass diese Lieferdienste auch Bio-Produkte vertreiben“, so Rutscher.
Mit dem eigenen Lieferservice verfolge das Ökodorf Brodowin ein entgegengesetztes Konzept. „Wir liefern mindestens einmal wöchentlich, manche Adressen erreichen wir auch zweimal pro Woche. Unsere Lieferanten folgen einer geplanten Tour. Zu unserem rein ökologischen Sortiment gehören auch über 100 unverpackte Produkte.“
Der Clou: Auf der Verpackung der Brodowiner Milch, die regelmäßig in den digitalen Warenkörben der Kunden der schnellliefernden Konkurrenz landet, wirbt das Unternehmen für seinen eigenen Lieferservice. Eine Idee, die Alnatura adaptieren könnte.
Dennree und Bio Company halten die Füße still
Bei Wettbewerber Dennree, der sich mit seinen Denns-Filialen und den inhabergeführten Partnerläden zum BioMarkt-Verbund zusammengeschlossen hat, gibt es unterdessen noch keine Pläne, den Schritt ins Zustellgeschäft zu wagen. Der Verbund prüfe sinnvolle digitale Serviceerweiterungen für den Naturkostfachhandel, teilt Lukas Nossol, Leitung Kommunikation im BioMarkt Verbund, mit. „Ein flächendeckender Lieferdienst gehört aktuell nicht dazu.“ Man wolle insbesondere vor Ort dazu beitragen, der Kundschaft „die Vielfalt von Bio als bewusstes Erlebnis zu ermöglichen und zeigen, was hinter dieser gewollten und notwendigen Vielfalt steckt“.
Auch die Bio-Company, Marktführer unter den Bio-Ketten in Berlin-Brandenburg, wird so bald nicht selbst liefern. Boris Frank, Vorstand Einkauf/ Sortiment bei der Bio-Company, teilt mit: „Wir sehen derzeit keine nachhaltig sinnvolle Lösung dafür und konzentrieren uns auf unser Kerngeschäft mit dem Anbieten vorrangig regionaler Ware.“ Vermutlich werden sowohl Dennree als auch die Bio-Company den Vorstoß von Alnatura genau beobachten und daraus ihre eignen Schlüsse ziehen.
Knuspr, der bereits ein breites Alnatura-Sortiment abdeckt, gewinnt laut eigenen Angaben 50 Prozent der Neukunden durch die persönliche Weiterempfehlungen. Um Kunden an den eigenen Online-Shop zu binden, muss Alnatura also liefern.
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