Viktor Bruns überlegt kurz. Lehnt sich nochmal zurück auf dem Holz-Stuhl vor seinem kleinen Bioladen im Schöneberger Crellekiez. Berlin im Krisen-Herbst 2022. „Wenn es dauerhaft wäre, ja, dann bringt das was!“ Das – damit meint der Gründer des kleinen Bio-Fachgeschäfts Biolino eine Mehrwertsteuersenkung oder sogar das komplette Runterfahren auf Null Prozent für Bio-Lebensmittel. Ein Vorschlag, der von Branchenverbänden schon länger gefordert wird und jetzt, in diesem von Energiekrise, Inflation und steigenden Preisen geprägten Herbst neuen Auftrieb bekommt. „Denn dann würde die Preisdifferenz zu konventionellen Lebensmitteln nochmal sinken. Und Bio gezielt gefördert werden“, erklärt Bruns.
Rein technisch wäre das aus seiner Sicht kein Problem. Das Kassensystem habe er bei der Mehrwertsteuer-Anpassung in der Corona-Anfangszeit auch selbst hinbekommen „ohne IT-Studium“, sagt Bruns. „Ich frage mich bei manchen Produkten sowieso warum die mit 19 Prozent besteuert werden, zum Beispiel Wasser. Das ist ja auch ein Grund-Lebensmittel. Oder auch Milchalternativen aus Hafer oder Soja. Die gelten als Getränke und werden mit 19 Prozent besteuert. Warum? Die sind genauso landwirtschaftlich erzeugt wie Kuh-Milch, die mit sieben Prozent besteuert wird.“
55 Kategorien an Gegenständen unterliegen dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz.
Wer es genau wissen will, muss ins Umsatzsteuergesetz (UStG) schauen. Anlage 2 zu Paragraph 12, Absatz 2, UstG heißt die im typischen Amtsdeutsch überschriebene Liste des Umsatzsteuergesetzes. Satte 55 Positionen werden dort aufgeführt. Waren, auf die nur sieben statt 19 Prozent Mehrwertsteuer fällig werden. Darunter sind so skurrile Punkte wie „Haustauben“ oder „Cornichons“. Auch „Topinambur“ bekommt einen Extra-Posten, „Stärke“ und „Gelatine“ auch. Und natürlich sämtliche Grundnahrungsmittel wie Getreide-Erzeugnisse, Obst und Gemüse. Fleisch übrigens auch. Seit 2020 auch Periodenprodukte für Frauen.
Haferdrinks indes tauchen in der Liste nicht auf. Das liegt daran, dass sie als „verarbeitete Lebensmittel“ eingestuft werden. Auf die werden 19 Prozent fällig. Das gilt auch für Luxus-Güter und Getränke wie Alkohol (Bier und Wein). Wer seinen Kaffee vor Ort trinkt, zahlt auch 19 Prozent, „To Go“ sind es nur sieben Prozent – da zählt der Dienstleistungs-Charakter.
Aktiver Anreiz für Bio
Wenn es nach dem Bundesverband Naturkost Naturwaren (BNN) geht, soll es bei Bio-Lebensmitteln bald ganz einfach sein. Und zwar nach dem (gerade in Krisenzeiten beliebten) Fußball-Motto: „Die Null muss stehen!“. „Der BNN fordert eine Senkung der Mehrwertsteuer für Bio-Lebensmittel und Naturwaren auf null Prozent. Dadurch würde ein aktiver Anreiz für den Konsum ökologisch produzierter Produkte geschaffen werden und zugleich die Unternehmen gefördert, die in die nachhaltige Herstellung von Lebensmittel investieren. Seitens der Bundesregierung wäre dieser Schritt ein wichtiges Signal dafür, dass mehr Bio auch im Absatz gewollt ist.“
Die weitere Begründung des Verbandes zielt auch auf die
Herstellungs-Bedingungen ab. „Der Einsatz von chemisch-synthetischen
Pestiziden in der konventionellen Agrarindustrie verursacht
Umweltfolgeschäden. Die Kosten für die Behebung solcher Schäden werden
pauschal über Steuern auf die Gesellschaft abgewälzt. Die
Bio-Landwirtschaft verzichtet auf chemisch-synthetische Pestizide und
investiert zugleich unter anderem in artgerechte Tierhaltung.
Das verursacht Mehrkosten, die bei Bio-Lebensmitteln und Naturwaren bereits weitgehend eingepreist sind und daher nicht zu Lasten der Allgemeinheit gehen. Heißt: Als Bürger und Bio-Konsument zahlt man derzeit doppelt für Umwelt- und Klimaschutz. Daher sollte die Besteuerung von nachhaltig und ökologisch erzeugten Lebensmitteln und Naturwaren reduziert werden.“
Der Abschlussbericht der „Zukunftskommission Landwirtschaft“ beziffert diese ökologischen Schäden auf satte 90 Milliarden Euro pro Jahr. Eine Zahl, die von der Unternehmensberatung „Boston Consulting“ ausgerechnet wurde. Demnach belaufen sich – so der Bericht – „die externen Kosten der deutschen Landwirtschaft, die sich beispielsweise durch Luftschadstoffemissionen, Wasserbelastungen sowie Bodendegradation ergeben, auf mindestens 40 Milliarden Euro pro Jahr. Berücksichtigt man darüber hinaus den Verlust von Biodiversität – insbesondere der Vielfalt von Arten, Genen und Lebensräumen – und den damit einhergehenden Verlust von Ökosystemleistungen, dann erhöhen sich die geschätzten externen Kosten der Landwirtschaft um weitere 50 Millionen.“
Konventionelle Tierprodukte müssten mehr als das Doppelte kosten
Genau da setzen auch die Forderungen einer Initiative an, die mit ihrer Online-Petition zur Forderung einer kompletten Abschaffung der Mehrwertsteuer auf EU-Bio-Lebensmittel
bislang knapp 25.000 Unterschriften gesammelt hat (Stand Januar 2023).
True Cost Economy heißt der Verein, der sich ganz generell dafür
einsetzt, dass Verkaufspreise die „wahren Preise von Produkten
widerspiegeln“, wie es auf der Homepage heißt. Denn, so steht dort
weiter, „solch niedrige Preise können nur entstehen, indem die
eigentlichen Kosten ausgelagert (externalisiert) werden. Sei es auf
Kosten von Ausbeutung, der Umwelt oder zukünftiger Generationen.“
Deshalb
auch die Bio-Lebensmittel-Petition. „In Deutschland soll bis 2030 30
Prozent der Anbaufläche biologisch bewirtschaftet werden. Um das zu
erreichen, braucht es dringend Maßnahmen, um Bio-Lebensmittel
attraktiver zu machen“, so Lisa Bacherle von True Cost Economy. Außerdem
verursachten Lebensmittel während der landwirtschaftlichen Produktion
Umweltschäden, zum Beispiel durch stickstoffhaltigen Dünger.
„Diese Kosten werden in der wissenschaftlichen Methodik des True Cost
Accountings als ,externe Kosten' oder auch ,Externalitäten' bezeichnet", sagt Bacherle.
„Sie spiegeln sich nämlich derzeit nicht im Supermarktpreis wider. So
sind biologische Lebensmittel oft viel teurer als ihre konventionellen
Äquivalente, obwohl sie laut Forschung geringere Umweltschadenskosten
verursachen.“
Es sei wichtig, diese externalisierten Kosten zu beziffern und damit Transparenz zu schaffen, erklärt Bacherle. „Die Vergünstigung von Bio-Lebensmitteln wäre ein Schritt in eine Gesellschaft, in der Lebensmittel ihren wahren Preis erhalten und jeder sich eine nachhaltige Ernährung leisten kann.“ Dabei bezieht sich True Cost Economy auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Projekte, etwa von der Uni Greifswald.
Lisa Bacherle liefert konkrete Zahlen: „Um alle Umweltkosten einzurechnen, müssten pflanzliche Produkte konventioneller Herstellung zum Beispiel 25 Prozent teurer sein, biologisch produzierte Produkte nur sechs Prozent. Noch größer sind die Differenzen bei tierischen Produkten, dort müssten für konventionelle Herstellung durchschnittlich 146 Prozent aufgeschlagen werden, bei biologischen Produkten 71 Prozent.“
Mehr Einnahmen erwartet
Die zur Rewe-Gruppe gehörende Discounter-Kette Penny hat in einer Berliner Modell-Filiale an mehreren Produkten beispielhaft genau solche Preise abgebildet. Der Mutterkonzern befürwortet auf BioHandel-Anfrage Schritte, „die spezielle Anreize für nachhaltigeren Konsum schaffen“. Hier könne „ein geringerer Mehrwertsteuersatz für nachhaltigere Produkte zur Förderung beitragen“.
Wie machen es andere EU-Länder?
Die Mehrwertsteuer-Sätze liegen in anderen EU-Staaten oft sogar höher als in Deutschland. In Österreich und Frankreich sind es 20 Prozent, in Italien 22 Prozent, in Griechenland 24 Prozent und in Kroatien, Dänemark und Schweden sogar 25 Prozent, in Ungarn gar 27 Prozent. Aber: viele Länder erheben auf Grundnahrungsmittel weniger Mehrwertsteuer. In Frankreich sind es auf alle Grundnahrungsmittel 5,5 Prozent, in Italien und Spanien liegt der Satz für Obst und Gemüse sowie Getreideprodukte sogar nur bei 4 Prozent.
Um die Bürger angesichts hoher Preise zu entlasten, hat Polen die Mehrwertsteuer auf Lebensmittel von Februar bis Ende Juli 2022 sogar komplett gestrichen. Diese Flexibilität der EU-Staaten ist erst seit einer Mehrwertsteuer-Reform der EU möglich, die im April 2022 nochmal erweitert wurde.
Demnach empfiehlt die EU den Mitgliedsstaaten Technologien für Erneuerbare Energien gezielt mit niedrigen Steuersätzen zu fördern. Auch Grundnahrungsmittel werden in dem Zusammenhang aufgeführt und es wird ausdrücklich auch eine komplette Steuerbefreiung aus sozialen Gründen erlaubt. (leg)
Aber wie einfach wäre es, die Mehrwertsteuer auf Bio-Lebensmittel zu senken oder ganz abzuschaffen? Ist das finanzierbar? Und kommt es am Ende überhaupt bei den Verbrauchern an? „Die Frage ist zum einen ,Wie definiert man Bio-Lebensmittel? Richtet sich das nach dem Label?'“, merkt Stefan Bach an. Er ist Steuerexperte beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Da könne ein Problem entstehen, so Bach: „Auch in der Begründung. Da beispielsweise Bio-Fleisch auch eine schlechte Öko-Bilanz hat“.
Der Punkt ist für die Debatte in der Tat wichtig. Denn beim Vorschlag von True Cost Economy sind alle Bio-Lebensmittel mit EU-Biosiegel gemeint. Das würde auch Tomaten aus energie-intensiven Gewächshaus-Anbaugebieten einschließen, die dann eine höhere CO2-Bilanz hätten als regionale, nicht-Bio-Ware. Ist das fair? Oder spielt man da nicht Bio gegen regional aus?
„Der Einnahmen-Ausfall für die Steuerkasse wäre jedenfalls verkraftbar“, bemerkt Steuerexperte Bach. Zur Einordung: 2021 hat der Bund 250 Milliarden Euro durch die Umsatzsteuer inklusive der Mehrwertsteuer eingenommen. Laut DIW-Berechnungen machen Lebensmittel nur rund fünf Prozent des Gesamtaufkommens der Mehrwertsteuer aus. Die Einnahme-Verluste würde der Staat also locker wegstecken. Zumal aktuelle Steuerschätzungen davon ausgehen, dass 2022 – vor allem durch die gestiegenen Preise – nochmal deutlich mehr Steuern in die Staatskasse fließen als bisher gedacht. Die Rede ist von zusätzlich rund 126 Milliarden Euro bis 2026.
„Derzeit gibt es keine Pläne des BMF die Umsatzsteuer auf (Bio-)Lebensmittel zu senken.“
Geld wäre also da. Ein großes Hindernis schwebt allerdings über all diesen spannenden Gedankenspielen. Denn Bach merkt zurecht an: „Die Finanzverwaltung ist dagegen!“ Die ist im Bundesfinanzministerium (BMF) angedockt, das von FDP-Chef Christian Lindner geführt wird. Von BioHandel darauf angesprochen, wie das Finanzministerium Mehrwertsteuersenkungen auf Bio-Lebensmittel bewertet, kommt eine klare Antwort: „Derzeit gibt es keine Pläne des BMF die Umsatzsteuer auf (Bio-)Lebensmittel zu senken.“
Das ist ein ziemliches K.O.-Kriterium, denn das Finanzministerium hat die Hoheit in allen Steuerfragen. Im Bundesagrarministerium klingt das Ganze schon anders. Das grün geführte Haus von Cem Özdemir zeigt sich offen für eine Mehrwertsteuer-Anpassung auf Lebensmittel. Schon länger.
Özdemir habe bereits im Zuge der Diskussion um die Preisentwicklung bei
Lebensmitteln in Folge des Angriffskrieges auf die Ukraine eine
Streichung der Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte
gefordert, heißt es von einer Sprecherin. Dafür gebe es allerdings
bisher keine Mehrheit in der Koalition. Womit der Ball wieder beim Bundesfinanzministerium liegt.
Auch der BNN macht Druck auf die Bundesregierung: „Die
Absichtserklärung der Bundesregierung bis 2030 30 Prozent Bio auf den
landwirtschaftlichen Flächen, aber auch in der Verarbeitung und im
Handel erreichen zu wollen, hat die Debatte um die Streichung der
Mehrwertsteuer auf Bio-Produkte nochmal befeuert. Auch das aktuell durch
die Inflation veränderte Einkaufsverhalten verdeutlicht, wie wichtig es
ist, nachhaltigen Konsum zu fördern, um die notwendige ökologische
Transformation der Land- und Lebensmittelwirtschaft voran zu treiben.
Denn die Klimakrise macht auch jetzt keine Pause“, so der BNN.
Mehrwertsteuersenkung kann den Absatz fördern
Und die Inflation wohl auch nicht. Auch deshalb wäre eine
Preissenkung über die Mehrwertsteuer ein Signal. Denn: Die Menschen
spüren die gestiegenen Preise. Auch bei Viktor Bruns in
Berlin-Schöneberg bei Biolino: „Die Leute schauen mehr aufs Geld. Das
merkt man schon“. Die Menschen im Kiez seien generell jedoch relativ gut
situiert, so Bruns weiter. „Aber die Rente wird ja auch nicht mehr.“
Weitergeben würde Bruns die Preissenkung auf jeden Fall. Er ist aber auch ehrlich. „Wahrscheinlich würde ich einen kleinen Anteil einbehalten, weil unsere Kosten ja auch gestiegen sind. Aber da reden wir nur über vier Prozent oder so.“ Auch von Rewe heißt es, dass man die mögliche Senkung „selbstverständlich weitergeben würde“.
„Das kann dann den Absatz fördern“, sagt Steuer-Experte Stefan Bach vom DIW. „Das hat man schon bei der kurzzeitigen Absenkung von 19 auf 16 Prozent in der Corona-Zeit gesehen.“ Eine Studie des DIW zeigt: die temporäre Mehrwertsteuer-Senkung damals war eine wichtige Stütze in der Corona-Krise. Und die Forschung belegt noch eine weitere Wirkung der gesenkten Mehrwertsteuer: Sie entlastet vor allem mittlere und geringe Einkommen. Denn diese Bevölkerungsschichten tragen gemessen am Einkommen prozentual die größte Last.
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